Favoriten der Woche:Ja, ich hätti gern Spaghetti

Lesezeit: 4 min

Kinder Kalender 2024. Moritz Verlag, Frankfurt am Main. 60 Seiten, 24 Euro. Ab sechs Jahren. (Foto: Moritz Verlag)

Der lyrische Kinderkalender des Moritz Verlags macht Lust aufs neue Jahr: diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Jörg Häntzschel, Kathleen Hildebrand, Christiane Lutz, Helmut Mauró und Gustav Seibt

Lyrik: Kinderkalender 2024

"Ein Mädchen stand staunend/vor einer Kastanie,/ sah hoch in die vielen Äste,/ die voll hingen mit Früchten,/ und rief verwundert:/ 'Ich wusste nicht, dass Igel /auf Bäumen wachsen!" Dieses katalanische Gedicht von Ramon Besora ist nur eins von 52 aus dreißig Sprachen und aus 38 Ländern, die der Kinderlyrikkalender aus dem Moritz Verlag versammelt. Dazu sieht man ein Mädchen, das selbst ein bisschen igelig aussieht - die Illustration aus der Originalausgabe bildet mit jedem Gedicht und dessen deutscher Übersetzung ein Kalenderblatt, jede Woche eins. Aus Estland kommt ein Anti-Schlaflied für den Papi, "denn schnarchst du laut,/dann krieg ich Gänsehaut", ein Essenswunsch aus England: "Ja, ich hätti gern Spaghetti". In einem Gedicht aus Korea zirpen Zikaden "zirp zirp" aus dem Hochhauswald. Ausgesucht werden die Etappen vom Team der Internationalen Jugendbibliothek in München. Eine lyrische Weltreise, mit der man sich auf jeden Sonntagabend freut, denn dann heißt es: umblättern! Kathleen Hildebrand

Roman: "Fabian und Sebastian" von Wilhelm Raabe

Raabe ist ein altmodisch-gemütvoller Autor, der seine eigene baldige Versunkenheit immer schon mitdenkt. (Foto: Wallstein Verlag)

Wie entstehen die kleinen, in Glitzerpapiere gehüllten Schokofiguren, die wir an Weihnachten auf den Geschenktellern finden? Einen heute schon industriehistorischen Einblick verschafft uns Wilhelm Raabes Langerzählung "Fabian und Sebastian" von 1882. Da sehen wir den ganzen Vorgang, mit Röstofen, Mühle, Walzmaschinen, hydraulischer Presse (im lauten "Klappersaal") bis zu Etikettiersälen und Packräumen. Das Grundmaterial, die Kakaobohnen, kommen vom Indischen Ozean, bevor sie von Hunderten Arbeiter:innenhänden in die süß schmelzende Schokomasse verwandelt werden. Hier darf gegendert werden, weil Raabe den Gesamtvorgang präzise geschlechtersensibel auf männliche und weibliche Arbeitskräfte verteilt.

Mit "Fabian und Sebastian" beginnt eine neue kommentierte Raabe-Ausgabe im Wallstein Verlag. Die Wahl ist gut, denn diese Erzählung ist wenig bekannt und gehört zum immer komplexer werdenden Spätwerk des 1910 verstorbenen Raabe. Dieser entwickelt sich seit ein paar Jahren zu einem veritablen "Writer's Writer" der jungen deutschen Literatur. Denn technisch ist Raabe oft schon auf dem Stand von William Faulkner: Er lässt seine Figuren wie absichtslos (wenn auch altfränkisch marottifiziert) reden und die "Handlung" samt oft grausigen Vorgeschichten wie nebenbei aus der Geräuschkulisse emportauchen. Lange weiß der Leser (m/w/d) gar nicht, wovon überhaupt die Rede ist: Die Lektüre wird zu Aufmerksamkeitstraining und Gehirnjogging. Zugleich nimmt Raabe wie sonst keiner damals soziale Umstände in den Blick: Industrie, Umweltzerstörung, Kolonialismus. Und doch bleibt er ein altmodisch-gemütvoller Autor, der seine eigene baldige Versunkenheit immer schon mitdenkt.

Das Adjektiv "marottifiziert" in der Klammer oben stammt von Moritz Baßler, dem Herausgeber dieses Pilotbandes. Sein lässig-kluges Nachwort erschließt wunderbar Raabes komplexe Struktur zwischen zerredeter Textoberfläche und einer grausigen Handlung mit Mord und Gefängnis. Die Schokoladenfirma "Pelzmann und Compagnie" birgt ein Familiendrama, das nur von einer aus der Südsee angereisten kreolischen Nichte aufgelöst werden kann. Wer "Weihnachten" noch mit "Überraschung" verbinden mag, greife zu dem großartigen Erzähler Wilhelm Raabe. Gustav Seibt

Pop: Bacao Rhythm & Steel Band

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Gleich zu Beginn des grandiosen Films "Anatomie eines Falls" bringt ein ohrenbetäubend lautes Musikstück das fatale Geschehen ins Rollen: eine Steeldrum-Version von 50 Cents "P.I.M.P" - Hip-Hop, den es aus New York via Trinidad in die französischen Alpen verschlagen hat. Hinter der Metamorphose des Songs steht die Hamburger Bacao Rhythm & Steel Band, ein Projekt um den Funkmusiker Björn Wagner. Die Band spielt viele eigene Songs, doch bekannt ist sie vor allem für ihre Cover von Hip-Hop-Klassikern. Mit ihrem Album "55" oder dem Prerelease der kommenden Platte, "BRSB", überwinden sie das Tourimeilen-Image der Steeldrum ebenso wie die Stereotypen des Hip-Hop. An deren Stelle treten Ironie, Leidenschaft und eine gehörige Verbohrtheit - genau die Qualitäten also, die in diesem Film gefragt waren. Jörg Häntzschel

Klassik: "Missa in labore requies A 24"

Die ganze Bandbreite barocker Musikkunst ist hier zu hören. (Foto: Château de Versailles Spectacles)

Angesichts des ganzjährigen Mozart-Hypes vergisst man bisweilen, dass Salzburg mit einer weitaus längeren Musiktradition aufwarten kann. Nicht erst Wolfgang Amadeus Mozart und Michael Haydn sind die entscheidenden historischen Wegweiser, viel eher Ignaz Franz Biber und Georg Muffat. Der kam 1678 nach Studienjahren in Paris (Musik) und Ingolstadt (Rechtswissenschaft), nach seiner Zeit am Jesuitenkolleg im Elsass und in Wien im Jahr 1678 über Prag nach Salzburg, wo er neben Biber als Domorganist wirkte.

Was Muffat in besonderer Weise auszeichnete, und das hört man auch in seiner "Missa in labore requies", war seine künstlerische Weltläufigkeit. Er beherrschte wie nur wenige sowohl den französischen wie auch den italienischen Stil, war persönlich mit dem berühmten Jean-Baptiste Lully in Paris ebenso vertraut wie mit Arcangelo Corelli in Rom. Im reichen Salzburg konnte Muffat sein Talent in barocker Pracht entfalten. Auch wenn seine Missa mit nur halb so vielen Musikern auftrumpft wie die monumentale Missa Salisburgensis des Kollegen Biber, so steht sie dieser an Pracht und Klangentfaltung kaum nach. Das liegt vor allem daran, wie Muffat Solisten, Chorsatz und Orchesterinstrumente einsetzt.

Gerade die hellen, durchdringenden Blechbläser verlangen wohl kalkulierte Dosierung, um eine optimale Gesamtwirkung zu erreichen. Das braucht natürlich eine entsprechende praktische Umsetzung, die der Komponist teils mit eigenen Anmerkungen auf den richtigen Weg bringt. Dirigent Damien Guillon folgt mit den Ensembles Le Banquet Céleste und La Guilde des Mercenaires dem barocken Spirit von Georg Muffat, das individuell Gestaltete mit dem klangräumlich aufgespreizten Gesamtdramatischen in spannenden Zusammenhang zu bringen.

Das Erbe der venezianischen Mehrchörigkeit ist unüberhörbar und war im Salzburger Dom mit vier Emporen und vier Orgeln auch eindrucksvoll zu inszenieren. So erleben wir bei der Wiederentdeckung dieser 24-stimmigen Muffat-Messe recht unmittelbar die ganze Bandbreite barocker Musikkunst, vom strengen Kontrapunkt bis zur glamourösen instrumentalen Ausgestaltung und darüber hinaus: die präzise musikalisch eingebundene Textdeklamation. Ein Gesamtklangwunder. Helmut Mauró

Hörbuch: Johannes Nussbaum liest "Echtzeitalter"

Der Schauspieler Johannes Nussbaum, 2021. (Foto: Frank Hoermann/Sven Simon/Imago)

Schwer auszudrücken, wie es klingt, wenn der österreichische Schauspieler Johannes Nussbaum das Hörbuch "Echtzeitalter" liest ( Argon Verlag, auf Spotify). Deutsche lieben ja den Wiener Schmäh, weil keine Sprache sonst so wurschtig bei gleichzeitiger Eleganz ist. "Echtzeitalter" von Tonio Schachinger erzählt vom Eliteschüler Till Kokorda, der seine Zeit lieber mit dem Computerspiel "Age of Empires" verbringt als mit Adalbert Stifter. Wenn der despotische Lehrer Till das Zeugnis hinknallt, klingt das bei Nussbaum herrlich nach Mischung aus echter Wut und Genuss am Versagen anderer: "Verstehst, was ich sage? Das glaub ich ned, sonst würdest ned irgendan Schaas schreiben über irgendein deppertes Videospiel. Hier solltest du anwesend sein. Und net in deinem depperten Informatiksaal und ned bei irgendwelchen Trutscherln." Christiane Lutz

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