"Aus dem Walde tritt die Nacht..." Wer Lieder liebt, der kennt diese Zeile aus "Die Nacht" von Richard Strauss. Das Lied gehört zum seelenvollsten Erbe deutscher Kultur, kaum ein Star des klassischen Konzertbetriebs, der es nicht gesungen hat, von Dietrich Fischer-Dieskau bis Diana Damrau. Trotzdem wird das Publikum es an diesem Abend in Rom erstmals mit vollkommen anderen Ohren hören. Er ist den Opfern sexuellen Missbrauchs gewidmet, besonders des Missbrauchs an Kindern durch katholische Priester.
Laurence Gien singt die melancholisch-hypnotischen Töne der "Nacht" mit seinem warmen Bariton, tief, klar, unmissverständlich. "...Alle Lichter dieser Welt, alle Blumen, alle Farben löscht sie aus ... Alles nimmt sie, was nur hold... Nimmt das Silber weg des Stroms. Nimmt vom Kupferdach des Doms - weg das Gold." Eine Frau im Publikum wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Diplomaten aus Ländern von Afrika bis Skandinavien sind in die Villa Malta gekommen, um ihm zuzuhören, Nonnen, Priesteranwärter und Betroffene. Eingeladen haben dazu das "Institute of Anthropology", hinter dem ein Projekt der Kirche zum Opferschutz steht, und die deutsche Botschaft.
Laurence Gien hat "Die Nacht" und andere Lieder ausgesucht für dieses Programm. Auch weniger klassische Klänge sind dabei, von Kurt Weill zum Beispiel - und Instrumentalstücke, die auch ohne Worte beschreiben, was ohnehin kaum auszusprechen ist. Und worüber, wenn es nach manchen in der katholischen Kirche gehen würde, besser für immer geschwiegen würde.
Begleitet wird Laurence Gien von der Geigerin Angela Rossel und Geoffrey Abbott am Klavier. Alle drei sind Spitzenmusiker, alle drei wohnen in Augsburg und arbeiten europaweit. Laurence Gien war viele Jahre Ensemblemitglied am Münchner Gärtnerplatztheater, später in Kassel und Braunschweig. Er hat den Beckmesser gesungen aus Richard Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg". Und er hat für Eberhard Schöner gesungen, den gefeierten Komponisten und Großmeister in der Avantgarde der elektronischen Musik.
Trotzdem war der Weg für Laurence Gien nach Rom schwer. So schwer wie wenig anderes in seinem Leben. Für ihn war dieses Konzert nicht nur ein künstlerischer Akt. Die Einladung der Geistlichen hierher angenommen zu haben, war gleichbedeutend damit, mit seiner eigenen Geschichte als Missbrauchter an die Öffentlichkeit zu gehen.
Gien war Schüler eines katholischen Internats in Südafrika, als es geschah
"Ich war elf Jahre alt, als ich schweren Missbrauch erlitten habe", wird Gien, der in Südafrika aufwuchs, am nächsten Tag vor Priesteranwärtern erzählen. Sie studieren an diesem Institut der Vatikanischen Universität. Nach der Tat des Geistlichen, der einfach nur an eine andere Schule versetzt worden war, sei sein Leben "in vielerlei Hinsicht von jenen traurigen Ereignissen beeinflusst worden". Auch wenn sie vor 50 Jahren auf einem anderen Kontinent stattgefunden hätten, "in einem abgedunkelten Raum in einem katholischen Internat". Dass er nun als Opernsänger mit diesem Vorzeichen offen durch die Welt gehen wird, dass dieses Wissen der Gegenüber den Blick auf ihn als Künstler künftig verstellen mag, dieses Risiko geht er bewusst ein.
"Doch ich singe nicht als Opfer!" Das sagt Laurence Gien, und man glaubt es ihm, wenn er auf der Bühne steht wie ein Fels in der Brandung, perfekte Stütze, groß, kräftig. Aber sein fehlendes Selbstbewusstsein habe ihn trotzdem zeit seines Lebens verfolgt, erzählt Gien.
"Das ist so typisch für die Betroffenen von Missbrauch", sagt Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats der Erzdiözese München und Freising. "Nur die allerwenigsten schaffen es, so stabil im Leben zu stehen wie Laurence Gien", sagt Kick. Dass das überhaupt möglich sei, vor Augen geführt zu bekommen, das allein sei schon wichtig für Missbrauchte. Das gebe Kraft, mache Mut, der so vielen fehle.
Warum der gewählte Weg Männer wie Laurence Gien und Richard Kick aber ausgerechnet zurück zur Kirche führt? Warum sie sich sogar zur Zusammenarbeit mit einer katholischen Institution entschlossen haben? Kick, der 15 Jahre lang alkoholkrank war und nie einen Schulabschluss geschafft hat infolge der psychischen Probleme, die ihn plagten, seit er ab einem Alter von acht Jahren über lange Zeit missbraucht worden ist, erklärt das so: "Wir haben unsere Sozialisation in der Kirche erfahren. Sie ist eine Art Zuhause." Und Laurence Gien sagt: "Die Kirche gehört niemandem allein. Im Grunde ist sie sowieso ausschließlich im Herzen jedes Einzelnen angesiedelt. Und mir sind nun in der Kirche Menschen begegnet, denen ich vertraue."
Gien spricht von Peter Beer und Hans Zollner. Zollner hat erst kürzlich für Wirbel gesorgt, als er sich Mitte März überraschend aus einem päpstlichen Gremium zum Schutz Minderjähriger zurückgezogen hat. In seiner Rücktrittserklärung übte er heftige Kritik an den Strukturen und der mangelnden Transparenz dieser Kommission, die Papst Franziskus 2014 zwar persönlich eingerichtet hat, die aber kaum nachvollziehbare Ergebnisse liefert.
Zollner gilt als einer der wichtigsten Fachleute zum Thema Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche. Der Jesuit war 2012 Mitbegründer und später Leiter des Centre for Child Protection in München, dessen Sitz wurde 2015 an die Päpstliche Universität Gregoriana in Rom verlegt und ist später im "Institute of Anthropology. Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care" (IADC) aufgegangen. Zollner, der nicht nur Theologe, sondern auch Psychotherapeut ist, leitet das Institut seit 2021 als Direktor.
Der Zweck der Einrichtung: ein weltweit wirkendes Präventionsprogramm, um sexuellen Missbrauch durch Geistliche zu verhindern. Die Schulung von Priesteranwärtern macht dabei einen wesentlichen Teil aus. Herauszufinden, wer unter ihnen dieses Amt keinesfalls antreten sollte, ist der entscheidende Aspekt.
In der Einsicht, dass die Kirche ihren Missbrauchsskandal nicht selber würde aufklären können, gab er sein Amt 2019 ab
Pater Zollner arbeitet eng mit Peter Beer zusammen. Er trägt den Titel "Leiter Forschung und Entwicklung" am Institut. In Bayern kennen ihn viele - und nicht nur Katholiken - noch in einer anderen Funktion: Zehn Jahre lang war er Generalvikar der Erzdiözese München und Freising. Damit war er einer der einflussreichsten Männer neben Kardinal Reinhard Marx. In der Einsicht, dass die Kirche ihren Missbrauchsskandal nicht selber würde aufklären können, gab er sein Amt 2019 ab.
Beer hatte das erste Missbrauchsgutachten der Diözese 2010 in Auftrag gegeben. Je tiefer er sich selbst mit der Thematik befasste, desto mehr offenbarte sich ihm deren Gräuel. In einem Interview in der Zeit, das bis heute in kirchlichen Kreisen nachhallt, sagte Beer im Januar 2022: "Ich musste einsehen: Wir haben keine Einzelfälle von Missbrauch, sondern ein System. Das hat mich erschüttert." Und das System, es "bremst und vertuscht" in Beers Augen bis zum heutigen Tag.
Beer war Pädagoge und arbeitete drei Jahre lang als Religionslehrer an einer Grundschule, bevor er Priester wurde und seine Karriere in der kirchlichen Hierarchie mit großer Dynamik Fahrt aufnahm. Den Priesterkragen trägt Beer nun seit Jahren nicht mehr ("Manche Missbrauchte ertragen den Anblick allein nicht") - und mit dem Kragen hat er viele Würden, Ehrungen und Ämter abgelegt.
Über die Zweifel an seiner Lebensentscheidung für die Kirche spricht er offen, und wenn er es tut, zieht Beer, der sonst so herzlich lachen kann, die Mundwinkel tief zum Kinn. Sinn schöpfe er für sich "aus dem der Entschluss, jetzt zu tun, was möglich ist, um Betroffenen zu helfen und zu verhindern, dass Missbrauch immer weiter geschieht". Peter Beer war es, der Laurence Gien um Hilfe gebeten hat bei diesem Versuch.
Die Erzdiözese sucht derzeit die Zusammenarbeit mit mehreren Künstlern, um einen Heilungsprozess zu fördern
Beer ist auch Vorsitzender der Marx-Stiftung "Spes et Salus", gegründet, um den Missbrauchsbetroffenen Hoffnung und Hilfe zu geben. Laurence Gien ist von nun an deren künstlerischer Berater. Und er ist nicht der einzige Künstler, der derzeit bereit ist, zumindest einen Stück des Weges mit der Erzdiözese und Leuten wie Beer und Zollner zu gehen.
Michael Pendry, dessen Arbeit "Heart" am Mittwoch dem Papst von Betroffenen überbracht wird, gehört dazu. Besondere Aufmerksamkeit verdient, was im neu eröffneten Diözesanmuseum in Freising gezeigt wird: von Berlinde De Bruyckeres etwa. Ihr bronzener "Arcangelo" steht dort als Installation im Lichthof, mit hängenden Flügeln und vom Kopf bis zu den nackten Knien ummantelt von einem Umhang aus patiniertem Blei.
Doch keine Künstlerin, kein Künstler hierzulande hat bislang so einen Schritt gewagt wie Laurence Gien, der selbst betroffen ist. Und mancher fragt sich unterdessen, wem am Ende mehr geholfen sein wird, den Betroffenen oder der Kirche selbst. "Nach Beratschlagung mit meiner Ehefrau und meinen Kindern habe ich mich dafür entschieden, die Hand zu ergreifen, die mir von der Erzdiözese gereicht wurde", sagt er. "Ich tue dies in dem festen Glauben, dass Kunst, Musik und Literatur helfen kann."
Denn schon als junger Mann, bevor seine eigene Stimme entdeckt worden ist, hat Gien in seiner Einsamkeit Trost gesucht in der Musik von Singer-Songwritern wie Bob Dylan, Joni Mitchell und Simon & Garfunkel - und ihn gefunden. Von seinen Konzerten erhofft er sich nun schlicht, "dass die Menschen etwas mitnehmen, das ihnen Stärke gibt. Denn es gibt nichts Schlimmeres als Hoffnungslosigkeit."