Vom Aufweichen der starren Position der Grünen zur Atomkraft sieht sich die bayerische Staatsregierung in ihrem Kurs beflügelt - und packt jetzt weitere Forderungen oben drauf. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verlangte am Dienstag nach einer Sitzung seines Kabinetts erneut eine längere Laufzeit für deutsche Atomkraftwerke - jedoch nicht nur als sogenannten Streckbetrieb ins nächste Frühjahr hinein, sondern "mindestens" bis Mitte 2024. Nötig sei kein "komischer" Streckbetrieb, "nicht drei Monate Streck hin und Streck her, vor und zurück", sondern eine "verlässliche, saubere Grundlage", sagte Söder. Um die Energieversorgung sicherzustellen, brauche es "endlich mutige Entscheidungen", es sei "an der Zeit, nicht ständig Nebelkerzen zu werfen".
Eigentlich sollen die letzten drei Meiler in Deutschland, darunter in Bayern Isar 2 nahe Landshut, zum Jahresende endgültig vom Netz gehen. Seit kurzem aber gibt es für einen Streckbetrieb - ohne Bestellung neuer Brennstäbe - auch innerhalb der Ampelregierung Signale, sollte ein laufender Stresstest zur Stromversorgung dies notwendig machen. Im Münchner Stadtrat, wo Grüne und SPD regieren, hat die Koalition vergangene Woche den Weg freigemacht für einen längeren Betrieb des niederbayerischen Kraftwerks, an dem die Stadt zu 25 Prozent beteiligt ist. Das neue Datum Mitte 2024 rechtfertigte Söder mit dem "langen Atem", der im Umgang mit Putins Energietaktik gefragt sei. Auch die Bundesnetzagentur spreche davon, dass "zwei harte Winter" bevorstünden. Erneuerbare Energien, sagte Söder, seien dagegen "ein mittelfristiges Konzept", da sie zunächst die sogenannte Grundlastfähigkeit nicht ermöglichten; also Strom ohne Unterbrechungen zu liefern. Bisher hatte die CSU in der Regel nur vom vorübergehenden Weiterbetrieb gesprochen, um gut über den kommenden Winter zu kommen.
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Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) forderte derweil, auch stillgelegte Atomkraftwerke zu reaktivieren. Er sagte im Deutschlandfunk, man müsse alles ans Netz nehmen, was verantwortbar sei. Zum Beispiel der Ende 2021 abgeschaltete bayerische Meiler Gundremmingen C verfüge über Brennstäbe, die bis August 2023 Strom liefern könnten. Söder sagte dazu am Dienstag, "mehr geht immer" - zunächst stehe aber die Verlängerung der drei noch aktiven Kraftwerke im Fokus.
"Im Extremfall"
Den Grünen warf Söder vor, mehrmals die "Unwahrheit" in der Atomdebatte gesagt zu haben - bei den Sicherheitsbedenken und dem fehlenden Personal für den Weiterbetrieb. Erstere habe längst ein Gutachten des TÜV Süd ausgeräumt, Letzteres werde durch Rückmeldungen aus der Branche widerlegt. Auch die jüngste These von Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) in der ARD-Sendung "Anne Will", wonach Bayern "ein Sonderproblem" bei der Energieversorgung habe, treffe nicht zu, sagte Söder. Jedes bayerische Problem zeige sich gleichermaßen im grün regierten Baden-Württemberg.
Die Fraktions- und Parteispitze der bayerischen Grünen schließt indes eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen Atomkraftwerke nicht aus - aber eben nur für einen Streckbetrieb, wie die Deutsche Presseagentur am Dienstag berichtete. Wenn der nun laufende verschärfte Stresstest ergeben sollte, dass einzelne Atomkraftwerke "im Extremfall" zur Aufrechterhaltung der Stromversorgung und Netzstabilität notwendig seien, "müssen wir je nach Anlage entsprechend reagieren", heißt es in einem Statement von Landtagsfraktionschef Ludwig Hartmann, aus dem die Augsburger Allgemeine als erstes zitiert hatte. Beim Streckbetrieb würden die Kraftwerke zunächst gedrosselt, damit sie dann mit den vorhandenen Brennstäben auch über den Jahreswechsel hinaus betrieben werden können. Die Bundesregierung hatte kürzlich mitgeteilt, es gebe eine zweite Stresstest-Berechnung mit verschärften Annahmen wie etwa einem noch gravierenderen Ausfall von Gaslieferungen. Mit Ergebnissen sei in den nächsten Wochen zu rechnen. Ein erster Stresstest vom März bis Mai kam noch zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit im Winter gewährleistet sei.
Hartmann sowie der grüne Landesvorsitzende Thomas von Sarnowski übten zugleich Kritik an der Staatsregierung. Sie verwiesen darauf, dass in Bayern das Risiko von Versorgungsengpässen im Winter größer sei als in anderen Bundesländern - "weil uns die bayerische Regierung vollkommen abhängig gemacht hat von russischem Gas, sie den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie verschlafen und den so wichtigen Netzausbau boykottiert hat", sagte Hartmann. "Das macht uns zum Sorgenkind des Bundes und bringt uns in die Situation, dass wir - je nach Ergebnis des Stresstests - eine Hochrisikotechnologie vielleicht für einige Wochen zur Überbrückung am Netz lassen müssen."
Söder will Haidach besuchen
Söder kündigte am Dienstag außerdem an, mit Aiwanger demnächst den Gasspeicher Haidach im Salzburger Land zu besuchen. Das Groß-Depot liegt zwar auf österreichischem Staatsgebiet, ist bisher aber nur an das deutsche Gasnetz angeschlossen und für die Versorgung Bayerns wichtig. Österreichs Umweltministerin Gewessler hatte in einem Interview mit der SZ nun angekündigt, Haidach auch mit dem österreichischen Netz zu verbinden. Die tatsächlichen Zugriffsmöglichkeiten des Freistaats auf das Gas müssten zeitnah geklärt werden, sagte Söder, bisher gebe es nur "Absichtserklärungen". Die europäische Solidarität sei ein hohes Gut, wenn es wirklich eng werde, könnten aber Diskussionen beginnen. Gleichwohl räumte Söder auf Nachfrage ein, dass die geplante Exkursion mit Aiwanger hauptsächlich dem Zweck diene, "sich zu kümmern und ein Bild vor Ort zu machen". Entsprechende Verträge müssten zwischen den Regierunen in Berlin und Wien ausgehandelt werden. Doch auch in anderen Fragen, in denen eigentlich der Bund entscheide, hätten seine Argumente "etwas in Bewegung gesetzt", sagte Söder - wohl anspielend auf die Atomkraft-Debatte.
Wie nach dem Kabinett mitgeteilt wurde, will der Freistaat den Stromleitungsausbau verstärken und das Umstellen weg von reinen Gasheizungen vereinheitlichen. Zudem brauche es voraussichtlich einen Rettungsschirm für Stadtwerke, die im Winter in Not geraten. Und Söder will eine eigene Süd-Ministerpräsidentenkonferenz mit den Kolleginnen und Kollegen aus Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg ins Leben rufen. "Erste Vorgespräche" habe es gegeben. Ziel soll sein, die Energieversorgung in den südlichen Ländern zu sichern. Es stehe zu befürchten, dass Planungen des Bundes vor allem den Norden begünstigen.