Antisemitisches Pamphlet:"Die letzten Jahrzehnte kein Antisemit"

Lesezeit: 5 min

Hubert Aiwanger (Freie Wähler), Wirtschaftsminister und Vizeministerpräsident, hielt am Dienstagabend auf dem Herbstfest Steinbrünning eine Rede. (Foto: Tobias C. Köhler/dpa)

Die Freien Wähler stellen sich hinter Hubert Aiwanger - der gibt vor der Kamera ein Statement ab, das viel Raum für Interpretationen lässt. Unterdessen erheben ehemalige Mitschüler weitere Vorwürfe gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten.

Von Katja Auer, Sebastian Beck, Roman Deininger und Andreas Glas,

Mittwoch, Mittagszeit im Landtag. Fünfte Etage, Saal 501. Die Tür geht auf, Hubert Aiwanger geht raus, verschwindet ein paar Minuten, geht wieder rein. Rein, raus, rein, raus. Den wartenden Reporterinnen und Reportern bietet Aiwanger Butterbrezen an. Dass hinter der Tür eine Krisensitzung läuft, sieht man den Gesichtern nicht an. Alle lächeln, wenn sie zwischendurch den Sitzungssaal verlassen. Gegen 12.30 Uhr steht dann Fabian Mehring auf dem Flur, Parlamentarischer Geschäftsführer der Freien-Wähler-Landtagsfraktion. Er spricht von "Schmutzkampagnen" und davon, dass es "absurd" sei, Aiwanger "als Antisemiten darzustellen". Wenn nun der Versuch betrieben werde, die Landtagswahl "zu einer Abstimmung darüber zu machen, ob man in Bayern nach 35 Jahren für die jugendlichen Verfehlungen des eigenen Bruders entlassen werden kann, dann blicken wir Freien Wähler diesen Wahlen optimistisch entgegen".

Wer also dachte, die Freien Wähler würden zurückziehen in der Flugblatt-Affäre um ihren Parteichef, weiß es jetzt besser. Statt zu deeskalieren, schalten Aiwangers Leute in die nächste Eskalationsstufe - und gehen auf Konfrontation mit ihrem Koalitionspartner CSU. Sie sind offenbar zu dem Eindruck gekommen, dass ihnen die Kontroverse um ihren Chef bei der Landtagswahl am 8. Oktober mehr nutzen als schaden könnte. Bei einem Festauftritt am Dienstagabend im Berchtesgadener Land hatte Aiwanger Beifall und Zuspruch bekommen. Es habe nun "im wahrsten Sinne des Wortes der bayerische Souverän das Wort", sagt FW-Fraktionschef Florian Streibl am Ende der Krisensitzung. Und: "Wahltag ist Zahltag."

SZ PlusFlugblatt-Affäre
:25 Fragen an Hubert Aiwanger

Eine Hängepartie hat begonnen in der bayerischen Politik. Ministerpräsident Markus Söder verlangt von seinem Stellvertreter Klarstellungen, rasch und schriftlich.

Von Roman Deininger und Andreas Glas und Johann Osel

Die von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Dienstag angedeutete Möglichkeit, dass die CSU die Koalition mit den Freien Wählern ohne Aiwanger fortführen könnte, weisen die Freien Wähler zurück. Streibl sagt: "Aiwanger wird immer irgendwie dabei sein." Das "irgendwie" könnte freilich einen gewissen Handlungsspielraum eröffnen: Söder kann Aiwanger aus seinem Staatsamt entlassen, aber natürlich nicht aus seiner Funktion als Chef der Freien Wähler.

Ein paar Stunden zuvor, am Rande eines Termins in Greding, hatte Söder den Druck auf seinen Stellvertreter und dessen Partei nochmals erhöht. Er reagierte damit auf einen Beitrag des BR-Magazins " Report München" vom Dienstagabend. Darin berichtet ein früherer Klassenkamerad darüber, dass Aiwanger in der Schule mehrmals "einen Hitlergruß gezeigt", Hitler-Reden imitiert und Witze über Juden gemacht habe.

Söder sagte, es müsse ein "faires Verfahren geben", aber "alle Fragen müssen zweifelsfrei geklärt werden. Da darf kein Verdacht übrig bleiben". Das gelte auch "für die neuen Vorwürfe, die jetzt bekannt geworden sind". Aiwanger selbst reagierte auf diese Vorwürfe am Mittwochvormittag mit einem Tweet: "#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los." Nach der Krisensitzung seiner Freien Wähler im Landtag wollte er nichts sagen.

Plattform X

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von X Corp. angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von X Corp. angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Am Nachmittag äußerte er sich allerdings in Donauwörth vor einer Kamera der Welt. Und das klang nicht nach einer klaren Distanzierung von allen Vorwürfen: Es könne vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden, sagte er, "aber seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Rechtsextremist, sondern ein Menschenfreund". Ob er in seiner Jugend tatsächlich den Hitlergruß gezeigt habe? "Ist mir auf alle Fälle nicht erinnerlich", sagte Aiwanger.

Erst am Dienstag hatte Söder von seinem Vize weitere Aufklärung gefordert zu dem rechtsextremistischen Flugblatt, das Aiwanger als Elftklässler in seiner Schultasche hatte. Inzwischen hat ihm Söder einen Fragenkatalog mit 25 Fragen zukommen lassen, die er "rasch" beantworten müsse. Außerdem sagte Söder, dass an Vorwürfen gegen Aiwanger "nichts dazukommen" dürfe. Das ist nun passiert.

Aus CSU-Kreisen heißt es, das Interview des Klassenkameraden habe "eine Wirkung" gehabt. Aiwanger gerate "immer stärker unter Erklärungsdruck". Aber natürlich müsse der Freie-Wähler-Chef "die Chance haben, sich umfassend zu erklären". Dass Aiwanger diese mit einer tiefgehenden Beantwortung der 25 Fragen ergreifen wird, bezweifelt man in der CSU allerdings angesichts der Kampfansage der Freien Wähler am Mittwoch.

SZ PlusSchriftexperte
:Das verräterische W

Warum ein Gutachter zu dem Schluss kommt, dass das antisemitische Flugblatt mit ein und derselben Schreibmaschine getippt wurde wie die Facharbeit von Hubert Aiwanger.

Von Katja Auer, Sebastian Beck und Andreas Glas

Söder am Dienstag: "Es blieben und bleiben viele Fragen offen"

FW-Fraktionsvize Bernhard Pohl sagte zu dem Fragenkatalog, Aiwanger werde ihn beantworten, "wenn's was hilft". Aber: "Im Kern hat Hubert Aiwanger bereits gesagt, was zu sagen ist." Allgemein bezogen auf die Vorwürfe sagte Pohl: "Hubert Aiwanger soll hier an die Wand gestellt werden, das lasse ich nicht zu."

Nachdem die Süddeutsche Zeitung über das Flugblatt aus dem Schuljahr 1987/88 berichtet hatte, räumte der Freie-Wähler-Chef ein, dass er mit den Pamphleten in seiner Schultasche erwischt worden war. Der Verfasser des Flugblatts will dessen Bruder Helmut gewesen sein, doch Hubert Aiwanger kann sich nach eigener Aussage nicht erinnern, ob er die Flugblätter damals in der Schule "weitergegeben" hat, also verteilt. "Es blieben und bleiben viele Fragen offen", hatte Söder am Dienstag gesagt.

Am Rande der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg äußern sich zur Mittagszeit auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) zu den Entwicklungen in Bayern. "Was bisher bekannt geworden ist, ist sehr bedrückend", sagt Scholz. Es müsse alles aufgeklärt und es müssten Konsequenzen gezogen werden, "wenn das alles geschehen ist". Habeck findet Aiwangers Umgang mit der Flugblatt-Affäre "unaufrichtig". Der bayerische Vizeministerpräsident habe in Reden "der jüngeren Vergangenheit eine Sprache des rechten Populismus benutzt". Ministerpräsident Söder müsse sich die Frage stellen, "ob er mit einem Kollegen, der so agiert, weiter in Zukunft arbeiten will. Ich finde das schwer vorstellbar". Auch Lindner sieht Söder in der Pflicht. Es dürfe "niemals Platz für Antisemitismus geben, das ist der demokratische Grundkonsens". Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen und dessen "Aufklärungsbereitschaft" findet Lindner "nicht glaubwürdig". Es müsse dringend Klarheit geben und gegebenenfalls Konsequenzen, die Aiwanger "selber ziehen muss oder der bayerische Regierungschef".

Der BR-Bericht untermauert die Recherchen der Süddeutschen Zeitung, die bereits am vergangenen Freitag über Lehrer und Mitschüler berichtet hatte, denen zufolge Aiwanger an seinem früheren Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg für seine rechtsextreme Gesinnung bekannt gewesen sei. Eine Nachfrage dazu hatte Aiwanger nicht beantwortet. In dem SZ-Bericht hieß es, Aiwanger habe damit geprahlt, er habe vor dem Spiegel Hitler-Reden einstudiert und dessen Buch "Mein Kampf" gelesen. Auf deren Wunsch hatte die SZ die früheren Lehrer und Mitschüler anonymisiert. Sie haben Sorge vor disziplinarrechtlichen und gesellschaftlichen Folgen. In "Report München" hat sich nun erstmals ein Mitschüler namentlich geäußert.

Am Mittwoch meldete sich eine weitere Zeugin bei der Süddeutschen Zeitung. Auch diese frühere Mitschülerin bestätigt von anderen Mitschülern erhobene Vorwürfe gegen Aiwanger in Bezug auf seine Gesinnung: "Er erzählte oft und gerne Witze über Auschwitz und Juden", sagte sie. Aiwanger habe wiederholt die Hand zum Hitlergruß gehoben. In der Schultasche habe er oft "Mein Kampf" mit sich geführt. Sie könne dies bestätigen, weil sie das Buch selbst in der Hand gehalten habe. An der Schule sei Aiwanger für seine rechtsextreme Haltung bekannt gewesen. Aiwanger ließ eine Anfrage der SZ zu den Vorwürfen unbeantwortet.

Die Türkische Gemeinde in Bayern will nach den Vorwürfen gegen Aiwanger die Zusammenarbeit mit ihm einstellen. Der Verein habe am Mittwoch beschlossen, nicht mehr mit Aiwanger zusammenzuarbeiten, solange die Vorwürfe unter anderem im Zusammenhang mit einem rechtsextremen Flugblatt aus Schulzeiten "nicht vollständig ausgeräumt sind und er sich transparent und vollständig zu seiner Vergangenheit äußert", sagte der Vorsitzende Vural Ünlü in München. "Die vorliegende Beweislage erscheint derart überwältigend, dass eine Umkehrung der Beweislast für Herrn Aiwanger unausweichlich wird."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusPopulismus
:Die Deppen da oben

Mit brachialen Parolen peitscht Hubert Aiwanger die "normalen Leute" auf. Ist er der neue bayerische Volksheld, der es den Eliten mal wieder so richtig gibt? Oder einer, der die Demokratie vergiftet?

Von Sebastian Beck

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: