Psychologie:Im Herzen alle gut

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Unversöhnlich: Abtreibungsgegner sowie -befürworter treffen vor dem US-Supreme Court in Washington aufeinander. (Foto: Allison Bailey/IMAGO/NurPhoto)

Linke wie Konservative treiben die gleichen moralischen Empfindungen an: Sie wollen Schwächere schützen. Dass sie trotzdem so erbittert und unversöhnlich über viele Themen streiten, hat einen einfachen Grund.

Von Sebastian Herrmann

An Reizthemen herrscht kein Mangel. Klimawandel, Russland, Nahost, Corona, Gender, Rassismus - die Liste ließe sich bis knapp vor die Unendlichkeit fortsetzen. In fast allen Fällen stehen sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüber und bezeichnen einander als Vertreter der Finsternis. Unverständnis über die Gegenposition lässt den selbstgerechten Zorn brodeln: Wenn sie nur einsehen würden, dass sie auf der falschen Seite stehen! So gesehen haben Psychologen um Jake Womick und Daniela Goya-Tocchetto eine frohe Botschaft zu verkünden: Das moralische Empfinden Linker wie Rechter speise sich aus der gleichen Quelle. "Allen ist es wichtig, Schwache vor Leid zu schützen", schreiben die Psychologen und liefern die wesentliche Einschränkung hinterher: "Aber nicht alle können sich darauf einigen, wer diese besonders Schwachen sind." Dieser moralische Kernkonflikt stecke hinter jedem Streit, der über die Reizthemen der Gegenwart ausgetragen wird.

In Versuchen mit mehr als 5500 Teilnehmern sammelten die Psychologen Indizien dafür, dass rivalisierende Vorstellungen von Verletzbarkeit ausreichend sein könnten, um moralische Konflikte zwischen Linken und Konservativen zu erklären. "Wenn sich Menschen über die Verletzbarkeit eines Wesens uneinig sind, dann streiten sie auch über den moralisch gebotenen Umgang damit", schreiben die Psychologen. Im Abtreibungsstreit zum Beispiel, Achtung, Deckung, gilt den einen das ungeborene Leben als besonders verletzlich, den anderen die Gesundheit und Autonomie der schwangeren Frau. In beiden Fällen gehe es darum, Schaden abzuwenden. Wer aber geschützt werden müsse, darüber wird gestritten - und die einen werden als Babymörder, die anderen als Frauenhasser herabgesetzt. Da solche Annahmen über Schutzbedürftigkeit intuitiv und nicht rational getroffen würden, ergebe sich daraus eine profunde Blindheit für die moralischen Erwägungen der Gegenseite, so die Forscher.

Konservative haben ein breiteres Verständnis davon, wer oder was als schutzbedürftig gilt

Das Team um Womick und Goya-Tocchetto stieß in seinen Daten zudem auf ein weiteres Muster, das Linke und Konservative unterscheidet. Angehörige des progressiven Lagers pflegen demnach im Vergleich ein eher binäres Konzept von Stärke und Schwäche. Sie teilen die Welt in besonders schwache, verletzbare und besonders starke, unverwundbare Menschen auf. Das offenbart sich zum Beispiel in linken Denkmustern, wonach sich mehr oder weniger alles als Beziehung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten erklären lasse und das mit Identitätsmerkmalen wie Hautfarbe oder Geschlecht verknüpft wird.

Konservative haben hingegen, so die Daten, ein breiteres Verständnis davon, wer oder was als schutzbedürftig gilt. Sie betrachten "alle Menschen als mehr oder weniger gleichermaßen verletzbar", schreiben die Psychologen - und betonen an anderer Stelle, dass sie weder Position beziehen noch von richtig oder falsch sprechen möchten, sondern die Grundlagen der oft so bitteren politischen Auseinandersetzungen zu verstehen versuchten. Und damit noch einmal zur hoffentlich allgemeinen Beruhigung die versöhnliche Botschaft: Alle Seiten treibt an, Schaden zu verhindern. Wer aber schutzbedürftig ist? Nur darüber fliegen die Fetzen.

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