Chemieindustrie:Eine Branche macht Druck

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Ludwigshafen, der Stammsitz des weltgrößten Chemiekonzerns BASF: Das Unternehmen gehört zu den Großabnehmern bei Energielieferungen und ist von den hohen Kosten besonders betroffen. (Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)

Die Chemieindustrie fordert einen staatlich subventionierten Industriestrompreis. Bei einem Treffen im Kanzleramt an diesem Mittwoch sitzen die Manager wohl am längeren Hebel.

Von Elisabeth Dostert, Björn Finke und Thomas Fromm, München/Düsseldorf

Da es in dieser Debatte um viel Geld geht, vielleicht sogar um die Zukunft dieses Landes, und weil hier jeder seine eigenen Interessen hat, zunächst einmal eine Außenansicht: Anna Wolf sagt, dass sie die Chemieindustrie seit zehn Jahren beobachte, und in all den Jahren hätten sich die Unternehmen immer sehr selbstbewusst und erfolgreich präsentiert. "Die Selbstwahrnehmung war: 'Wir sind Deutschlands Vorzeigebranche'", sagt die Branchenanalystin des Ifo-Instituts. BASF, Bayer, Fresenius: Große Namen und Zigtausende von Arbeitsplätzen. Doch vom einstigen Stolz ist gerade wenig geblieben. "Das hat sich inzwischen komplett gedreht", sagt Wolf. Die Lage der Chemieindustrie sei "äußerst kritisch".

So gesehen war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch ein Angriff auf das Geschäftsmodell der Unternehmen. Vorher, sagt Wolf, hätten die Energiepreise "in etwa auf dem Niveau der Preise in den USA" gelegen, heute lägen die Preise "um das Dreifache und mehr über dem Preisniveau der USA". Damit seien die Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig. Und international raus.

Für Unternehmen, die viel Energie brauchen, ist das verheerend. Und Chemieunternehmen brauchen sehr viel Energie. Rund ein Viertel bis ein Fünftel des Stroms der gesamten deutschen Industrie geht an die Chemieunternehmen.

Deshalb hat Christian Hartel an diesem Mittwoch einen wichtigen Termin im Kanzleramt. Für den Vorstandschef von Wacker Chemie, aber auch für andere, zum Beispiel die BASF-Vorständin Melanie Maas-Brunner und Covestro-Vorstandschef Markus Steilemann, dürfte es einer der wichtigsten, vielleicht sogar der wichtigste Termin in diesem Jahr werden: Sie treffen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Landeschefs wie den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). Die Politiker können sich auf einiges gefasst machen.

Sie klagen, sie flehen, sie warnen und drohen

Wenn man den Managerinnen und Managern in den vergangenen Wochen zugehört hat, ihren Klagen, ihrem Flehen, ihren Warnungen und ihren Drohungen, dann geht es um nicht weniger als ihre Existenz und die Deutschlands als Standort für die Chemieindustrie. Die einst so stolzen Manager und Managerinnen kommen nun also als Bittsteller nach Berlin, und das ist eine Rolle, die neu ist für sie. Klar, nach so vielen guten Jahren des Selbstbewusstseins. Aber es geht ja auch um viel.

(Foto: SZ-Grafik)

Auf dem Tisch liegt ein Industriestrompreis, staatlich subventioniert, wobei die Manager lieber von einem Transformationsstrompreis oder einem Brückenstrompreis reden, das klingt mehr nach einer vorübergehenden Hilfe. Wobei: Niemand kann ja heute sagen, wie lang diese Brücke sein wird. Oder, auch das: Ob sie nur eine Brücke von vielen sein wird.

"Wenn wir etwas Neues aufbauen, überlegen wir uns genau, wo die Rahmenbedingungen am besten sind"

Eine Anfrage bei Wacker Chemie. Wie soll das denn nun genau laufen mit dieser Brücke? Man plädiere für einen "Transformationsstrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde", sagt ein Sprecher. "Zeitlich begrenzt und für eine Übergangsphase", so lange, "bis genügend günstiger Strom aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung steht". Wie hoch die Energiekosten bei Wacker Chemie sind, will der Konzern aus "Wettbewerbsgründen" nicht sagen. Tatsächlich aber seien die Energiekosten "der mit Abstand größte Posten in unseren Herstellungskosten". Wacker Chemie benötige allein an den deutschen Standorten Burghausen und Nünchritz im Jahr etwa vier Terawattstunden Strom. Das entspreche ungefähr dem Verbrauch von 1,2 Millionen Haushalten. Im Vergleich zu asiatischen Ländern und den USA sei der Strom in Deutschland um den Faktor drei bis fünf teurer, so der Sprecher. "Wenn wir etwas Neues aufbauen, überlegen wir uns genau, wo die Rahmenbedingungen am besten sind."

Zum Beispiel in China. Man kann das nun für Zufall halten oder auch für perfektes Timing: Ausgerechnet am Tag vor dem Gipfel im Kanzleramt versendete Wacker eine Pressemitteilung. Der Anlass: Eine Feierstunde für neue Produktionslinien am Standort Zhangjiagang in der chinesischen Provinz Jiangsuin. Höhe der Investitionen: 150 Millionen Euro. China statt Deutschland und Europa, Guangdong statt Ludwigshafen: Hier, in der südchinesischen Provinz, bauen die Kollegen von BASF gerade einen riesigen neuen Verbundstandort auf, es soll der drittgrößte des Unternehmens werden und das Unternehmen bis 2030 an die zehn Milliarden Euro kosten. Treue zum Standort Deutschland? In Berlin weiß man, dass die Unternehmen auch anders können.

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Welcher Politiker will schon zusehen, wie eine Branche abwandert?

Wenn die Industrie an diesem Mittwoch bei der Politik aufläuft und ihre Forderungen stellt, dann hat sie sicherlich die bessere Verhandlungsposition. Einige meinen sogar: Das Druckpotenzial der Branche ist ziemlich groß. Denn wer will als Wirtschaftsminister schon dabei sein, wenn Tausende Jobs ins Ausland abwandern?

Die Politik ist gespalten. Habeck, seine Partei Die Grünen, und die SPD-Fraktion wollen für eine Übergangsphase einen staatlich subventionierten Industriestrompreis, der FDP-Parteivorsitzende und Finanzminister Christian Lindner sieht das anders. Subventionen lösten keine Probleme, sondern schafften neue. Zum einen würden Bürger und kleinere Unternehmen hiermit die Großen und Energieintensiven alimentieren. Gleichzeitig würde die Bereitschaft der Industrie sinken, langfristig in erneuerbare Energien zu investieren. Schwer zu sagen, wer recht hat.

Scholz und Habeck werden also genau hinhören, wenn Markus Steilemann, Chef des Leverkusener Kunststoffherstellers Covestro und zugleich Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), seine Lage erklärt. Der Manager sagt, das Land stehe gerade "an einem Scheideweg: Es entscheidet sich, ob wir als erfolgreicher Industriestandort eine Zukunft haben werden". Beim subventionierten Strompreis für die Industrie wird der Chemiker und Betriebswirt Steilemann fast schon poetisch: "Das Haus brennt, und beim Industriestrompreis handelt es sich um Löschwasser", sagt er. Also her mit der Feuerwehr.

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Profitieren könnte am Ende auch ein arabischer Konzern

Die Energiekosten von Covestro, vor acht Jahren von Bayer abgespalten, verdreifachten sich zwischen 2020 und 2022 auf stolze 1,8 Milliarden Euro. Dies war einer der Gründe, warum sich im vergangenen Jahr der Betriebsgewinn halbierte; im laufenden Jahr wird er noch weiter sinken. Im Unternehmen hat man mal durchgerechnet, was ein vom Staat gedeckelter Strompreis von zum Beispiel sechs Cent die Kilowattstunde bedeuten würde. Das Dax-Unternehmen würde in dem Fall zwischen 2024 und 2030 einen niedrigen bis mittleren dreistelligen Millionenbetrag sparen - und das jedes Jahr. Profitieren könnte davon übrigens auch der staatliche Öl- und Gaskonzern Adnoc aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Denn der würde Covestro gerne übernehmen und hat nun Verhandlungen mit dem Management um Steilemann begonnen. Die Investoren aus dem Emirat bieten dem Vernehmen nach 60 Euro je Aktie, das entspricht einer Bewertung des Kunststoffkonzerns von 11,5 Milliarden Euro. Die Aktienkurse sind niedrig, die Branche von hohen Energiepreisen ausgezehrt: Ist es nun wirklich ein Beleg für die Attraktivität deutscher Chemieunternehmen und des Standorts Deutschland, wenn ausländische Investoren ihre Angebote machen?

Kaum, meint Matthias Zachert, Chef des Kölner Spezialchemiekonzerns Lanxess. Eher ein Alarmsignal. "Durch die Standortnachteile sind viele deutsche Chemieunternehmen an der Börse geschwächt" und könnten so "leicht in den Fokus ausländischer Investoren geraten", warnte er am Wochenende in einem Interview. Zachert will eine besonders energieintensive Anlage im niederrheinischen Krefeld 2026 dichtmachen: "Hier verbrennen wir schon seit einiger Zeit Geld", klagt der Manager. Betroffen sind gut 60 Beschäftigte. Für eine andere Anlage dort sucht der M-Dax-Konzern Käufer. Große Investitionen in Deutschland soll es so lange nicht mehr geben, bis sich die Bedingungen verbessert haben. Dazu gibt es ein Sparprogramm, betriebsbedingte Kündigungen in Deutschland nicht ausgeschlossen. Hierzulande beschäftigt Lanxess die Hälfte seiner weltweit 13 000 Angestellten. "Die Politik muss jetzt endlich aufwachen", fordert Zachert. Die De-Industrialisierung beginne, sagt er auch.

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Das Problem gerade ist: Irgendwie brauchen ja alle Geld

Andere sehen es noch drastischer: "So gesehen hat die De-Industrialisierung schon angefangen", sagt Arne Rautenberg, Fondsmanager bei Union Investment und Experte für die Chemieindustrie. Bau- und Autoindustrie, zwei wichtige Abnehmerbranchen, schwächelten und die Geschäfte mit China laufen Rautenberg zufolge gerade auch nicht so prächtig. Und nun fragten sich viele Unternehmen, wie sie künftig noch in Europa und besonders in Deutschland profitabel arbeiten können. "BASF hat schon eine Antwort gegeben", sagt Rautenberg. Am Stammsitz in Ludwigshafen würden zehn Prozent der Produktionskapazitäten abgebaut, zwei energieintensive Anlagen - eine für Ammoniak und eine für TDI, ein Vorprodukt für Kunststoffe, stillgelegt. Der Bundesregierung fehle ein "realistischer Blick für die Gefahren, denen der Wirtschaftsstandort ausgesetzt ist", sagt Christian Kullmann, der Vorstandsvorsitzende des Essener Spezialchemiekonzerns Evonik. Neben den hohen Energiekosten führe auch die "lahme Bürokratie und die marode Infrastruktur dazu, dass immer mehr Unternehmen ins Ausland gehen".

Kann die Politik das jetzt so weiterlaufen lassen? Oder soll sie die Branche unterstützen? Und wenn ja: Für wie lange eigentlich? Bis die Energiewende geschafft und grüner Strom für alle da ist? Das kann dauern. Und auch wenn die Chemieindustrie besonders viel Energie braucht: Sie ist nicht allein. "Es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass die Branche von der Politik größere Subventionen erhält", sagt Anna Wolf vom Ifo-Institut. Energieprobleme hätten derzeit viele Branchen. "Und es ist nicht abzusehen, dass Energie mittelfristig billiger" werde, Industrie und Politik seien daher "in einer sehr schwierigen Situation". Was aber, wenn die Bittsteller von Berlin am Ende weiterziehen? Dahin, wo es weniger kostet? Wenn die De-Industrialisierung immer mehr Arbeitsplätze kostet? Es sei "sicherlich keine leere Drohung, wenn die Industrie ankündigt, Produktion in die USA oder nach China zu verlagern", sagt die Ifo-Analystin. Ökonomisch gesehen könne das sogar sinnvoll sein. "Die Frage ist, wie man politisch damit umgeht."

Und genau das ist das Problem. Kein Kanzler, kein Wirtschaftsminister und keine Ministerpräsidentin will wohl am Ende schuld daran sein, dass eine der größten deutschen Branchen ihre Koffer packt und geht.

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