Das neue Ausbildungsjahr hat diese Woche begonnen, und doch sind überall Aufrufe zu sehen: Plakate, handgebastelte DIN-A4-Zettel, Anzeigen im Internet. "Du kannst alles sein, außer egal" steht darauf oder "Das Beste, was Du werden kannst: Du selbst". Die Betriebe suchen Auszubildende - zum Verkäufer, zur Pflegerin, zum Anlagenmechaniker, und zwar verzweifelt. Das zeigen auch die aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Rund 228 000 Lehrstellen sind in Deutschland Anfang August noch unbesetzt. Aber nur rund 117 000 Jugendliche suchen eine Ausbildungsstelle. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsmarkt, es hat sich endgültig gedreht - und besteht trotz einer derzeit kriselnden Konjunktur. "Der Fachkräftemangel ist längst ein ausgeprägtes Phänomen", sagt Markus Kiss, Referatsleiter Ausbildungspolitik und -projekte bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). "Er zeigt sich besonders bei betrieblich Qualifizierten." Das Problem daran: "Keine Azubis heute bedeutet weniger Fachkräfte morgen."
Zwar betonen Wissenschaftler und Politiker immer wieder, dass der Fachkräftemangel noch nicht flächendeckend sei. Aber laut einer bisher nicht veröffentlichten Umfrage des Ifo-Instituts geben bereits 43 Prozent von 9000 befragten Unternehmen an, schon jetzt zu wenige Fachkräfte zu haben. Betroffen sind typischerweise die Gesundheitsbranche sowie Hotellerie und Gastronomie, aber nicht nur. "Richtig stark klagen insbesondere die Branchen, die gerade boomen", etwa IT-Unternehmen und Unternehmensberatungen oder andere Firmen mit mathematischer oder technischer Ausrichtung, sagt Klaus Wohlrabe, Chef des Geschäftsklimaindex beim Ifo-Institut.
Newsletter abonnieren:SZ am Sonntag-Newsletter
Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.
In der Dienstleistungsbranche, das zeigt eine Analyse der DIHK im Frühjahr 2023, ist der Fachkräftemangel längst die wichtigste Sorge, noch vor den Energie- und Rohstoffpreisen. In den südlichen Bundesländern tritt das Phänomen besonders häufig auf. Die Folgen lassen sich schon jetzt beobachten: Restaurants, die öfter geschlossen haben, Handwerksbetriebe, die Aufträge ablehnen.
Manche Ursachen für das Fehlen der Lehrlinge sind die gleichen wie jene, die den Fachkräftemangel bedingen, andere sind ausbildungsspezifisch. Zum einen steigt der Bedarf: Gerade in Gesundheits- und Pflegeberufen wird mehr Personal als früher gesucht, weil mehr alte Menschen gepflegt werden müssen. Auch die Zahl der gesuchten Handwerker steigt seit Jahren, dazu hatte zuletzt der Bauboom beigetragen. Zum anderen hakt es beim Weg in die Ausbildung: Von manchem der 328 Ausbildungsberufe wissen mögliche Kandidaten gar nichts. "Viele finden die klassischen Berufe wie Einzelhandelskauffrau oder -mann oder Kfz-Mechatronik toll, sie kennen das große Spektrum gar nicht", sagt Magdalena Polloczek vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Auch mangelt es zunehmend an Grundkenntnissen. Ein weiterer Knackpunkt ist: Die Ausbildung hat einen zu geringen Stellenwert, oft gilt die Hochschule als Idealfall. Große Chancen sieht DIHK-Experte Kiss daher im Gespräch mit den Eltern. "Der Weg zum beruflichen Glück muss nicht über ein Studium führen", das müsse man rechtzeitig vermitteln, sagt er.
Vieles ließe sich verbessern: die Löhne, die Arbeitszeiten, der Gesundheitsschutz
Gleichzeitig sieht er die Unternehmen in der Verantwortung. Zwar bemühen sich viele seit Jahren kreativ um Personal. Beispielsweise schicken sie sogenannte "Ausbildungsbotschafter" in die Schulen, Azubis, die von ihrer Arbeit berichten. Es gehe aber auch darum, die Ansprüche an Bewerber zu senken, fehlende Kompetenzen über eigene Angebote oder staatliche Programme auszugleichen. "Schwächere stärker an die Hand zu nehmen, die Schulnoten nicht immer als ausschlaggebend zu sehen, kann wichtig sein", sagt Kiss. Umfragen unter Auszubildenden zeigen, dass auch höhere Löhne Menschen in bestimmte Branchen locken. "Grundsätzlich geht es aber darum, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und so Branchen und Jobs von vorneherein attraktiver zu machen", sagt Wissenschaftlerin Polloczek.
Viele junge Menschen seien interessiert an Berufen wie der Pflege, wo man mit Menschen arbeitet. "Aber dort mangelt es an verlässlichen Arbeitszeiten, Gesundheitsschutz und langfristiger Personalplanung." Das schrecke Bewerber ab - und Menschen, die schon in der Branche sind. Viele Menschen gehen früher in Ruhestand, weil sie als Pflegekraft psychisch ausgebrannt sind oder als Dachdecker nicht mehr die Kraft für ihre harte Arbeit haben. "Der Arbeitsschutz muss so gestaltet sein, dass Menschen ihre Arbeit bis ins Rentenalter ausüben können", sagt Polloczek. Denn je mehr ältere Menschen den Job aufgeben, desto mehr Nachfolger werden gebraucht.
Aller Bemühungen zum Trotz: Der Fachkräftemangel, davon ist Forscher Wohlrabe überzeugt, wird sich in den kommenden Jahren verstärken. Deshalb wird es nicht reichen, neue Mitarbeiter zu finden und bisherige zu halten. "Unternehmen werden stärker schauen müssen, wie sie Arbeit reorganisieren können." Weniger Produkte und Dienstleistungen, mehr Technik und Automatisierung, das werden, meint Wohlrabe, neben besseren Konditionen für Menschen die entscheidenden Antworten sein.