WM-Qualifikation:Kung-Fu und Bumerang

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Die WM nicht mehr im Blick: Der Chilene Charles Aranguiz (20) und Torschütze Brereton (Mitte) beim 1:2 gegen Argentinien. (Foto: Javier Torres/dpa)

Die härteste aller WM-Qualifikationen: An einem bemerkenswerten Spieltag bestätigen die Südamerikaner ihr raues Fußball-Image. Die Chilenen stehen vor dem Aus - obwohl es nichts gab, was sie nicht bedacht hätten.

Von Javier Cáceres, Santiago de Chile

Die Stadt Calama ist einer dieser Orte im Norden Chiles, an denen man nach den Sternen förmlich greifen kann. Calama liegt mitten in der Atacama-Wüste und ist, wenn man auf dem Luftweg kommt, wegen seines Flughafens ein obligatorischer Stopp auf dem Weg nach San Pedro, eine der Touristenattraktionen Chiles schlechthin. Calama hat überdies die Eigenheit, dass es 2400 Meter über dem Meeresspiegel liegt; die Luft ist dort ähnlich dünn wie das lange, von der immerschäumenden Brandung des Pazifik umrandete Land selbst.

Womit wir bei der verzweifelten Lage der Fußball-Nationalmannschaft Chiles wären, deren Goldene Generation um den früheren Bayern-Profi Arturo Vidal 2015 und 2016 die Copa América gewann und nun wohl endgültig dem Niedergang geweiht ist. "Warum nicht in Calama gegen Argentinien spielen, statt wie sonst immer in Santiago, der historisch betrachtet einzigen WM-Qualifikationsspielstätte Chiles?", sollen die ältesten chilenischen Auswahlspieler gefragt haben. "Warum nicht den Argentiniern das Leben doppelt und dreifach schwermachen?"

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Superidee, fand die Verbandsführung. Doch am Donnerstag kam es, wie es kommen musste: Chile verlor gegen Argentinien 1:2. Die Qualifikation für die WM, die in diesem Jahr in einer anderen Wüste stattfinden soll, in Katar, ist nun weiter weg als der Himmel. Und das fühlte sich für jene Chilenen, die am Donnerstag ins Firmament schauten, so an, als funkelten die Sterne nur für andere, nicht für einen selbst.

Bei 32 Grad wurde den Argentiniern die Klimaanlage abgestellt - und "morgens gab's kein Wasser", sagt Rodrigo De Paul

Der Aufgalopp zur Partie war faszinierender als das Spiel an sich, und das will etwas heißen. Es gab nichts, was die Chilenen nicht bedacht hätten. Ihrem im englischen Stoke geborenen Stürmer Benjamin Brereton lieferten sie eine Überdruckkammer ins Schlafzimmer nach Britannien. "Big Ben", der üblicherweise für die Blackburn Rovers in der zweiten englischen Liga spielt, sollte sich an den unvermeidlichen Sauerstoffmangel gewöhnen. Die Chilenen richteten sogar den Rasen her, was ja in der Wüste so eine Sache ist. Und als die Begegnung vorüber war, schilderte Argentiniens Mittelfeldspieler Rodrigo De Paul (Atlético Madrid) ein paar Details aus dem Kompendium der psychologischen Kriegsführung.

Die WM ohne Chile? Gary Medel muss sich nach der Niederlage gegen Argentinien an den Gedanken gewöhnen. (Foto: Pool/Getty Images)

Die Grenzkontrollen hätten, PCR-Test und Spürhund-Einsatz inklusive, gut drei Stunden gedauert (was der pandemiebedingte Standard ist), "wir durften nicht mal auf Toilette", klagte De Paul. Im Hotel sei "bei 32 Grad die Klimaanlage ausgeschaltet" worden, was dazu geführt habe, dass man die Sirenen, die da heulten, ungefiltert hörte, "einige konnten nicht schlafen". Am Spieltag folgte dann angeblich eine kalte Dusche: "Morgens gab's kein Wasser." Die Entgegnung von Chiles Gary Medel klang ein bisschen so, als sei das kontinentaler Standard. "Die sollen das mal in aller Stille verdauen", in Argentinien werde man vergleichbar behandelt.

Wobei die größte Schikane für die Chilenen bei Auswärtsreisen jahrelang darin bestand, dass ihre jeweiligen Gastgeber die Minibars bis zum Bersten füllten, erst recht, wenn der für äthylische Exzesse berühmte Arturo Vidal zum Einsatz kommen sollte. Diesmal gab es an dieser Front keine Probleme, der frühere Bayern-Profi fehlte rotgesperrt. Und so sah er nur am TV, wie die Sonne überm Estadio "Zorros del Desierto" - zu Deutsch: Wüstenfüchse - kupferrot schimmernd unterging. Und vor allem, wie sich die kleinen Gemeinheiten der Chilenen als kontraproduktiv erwiesen.

Die letzten beiden Spiele bestreitet Chile bei den schon qualifizierten Brasilianern und gegen Uruguay

Denn ohne ihren Kapitän Lionel Messi, der nach einer Covid-Erkrankung in Paris zum Aufbautraining blieb, dürsteten die Argentinier auf Rache. Dass die Linienrichter ihre Fahnen vergaßen und Warnwesten umfunktionierten, hatte keinen Einfluss auf die Partie, wohl aber die Idee mit der Höhe - sie entwickelte einen Bumerang-Effekt. Weniger bei Argentiniens Führungstor von Ángel Di María, er zwirbelte den Ball aus gut 20 Metern genau neben den linken Pfosten, sondern vor allem als De Paul aus der Ferne abzog und der Ball in dünner Luft eine seltsame Dynamik entwickelte, so dass Chiles Torwart Claudio Bravo ihn nach vorn prallen ließ. Lautaro Martínez staubte zum 2:1-Siegtreffer ab (34. Minute), Bravo ließ sich auswechseln.

Zuvor hatte Brereton per Kopf den zwischenzeitlichen Ausgleich erzielt und seinen Ruf als Chiles Zukunftshoffnung untermauert. Diesen Brereton, 22, hatten die Chilenen vor geraumer Zeit gefunden, nachdem die Community-Manager des Videospiels "Football Manager" eingespeist hatten, dass er dank der chilenischen Mutter die doppelte Staatsbürgerschaft hat. Er liefert Tore - drei in vier Qualifikationsspielen - und bekommt im Austausch, so die Auskunft der Mama, "viel chilenisches Vokabular beigebracht", also: "ohne Ende Schimpfwörter" mit Lokalkolorit. Interviews gibt Big Ben noch immer auf Englisch: "Wir werden es weiter probieren."

Gleich zwei rote Karten gegen Brasiliens Torwart Alisson Becker werden wieder anulliert. (Foto: Santiago Arcos/dpa)

Nur: Die Fehlermarge ist minimal, das Restprogramm infernal. Am Dienstag geht es ins bolivianische La Paz, auf gleich 3500 Meter über Meereshöhe. Die letzten beiden Spiele bestreitet Chile bei den schon qualifizierten Brasilianern und gegen Uruguay. Die "Urus" gewannen ihre erste Partie nach dem Aus des ewig amtierenden Trainers Óscar Washington Tabárez in einem selbstredend beinhart geführten Spiel in Paraguay 1:0 (Tor durch Luis Suárez/50.). Ecuador wiederum ist nur noch einen Sieg davon entfernt, das dritte der insgesamt vier WM-Direkttickets zu holen, die Südamerika bereithält - nach einem 1:1 gegen Brasilien, das in einem sagenhaft chaotischen und deshalb historischen Spiel zustande kam.

Beim 1:1 zwischen Ecuador und Brasilien wurde ein neuer VAR-Rekord aufgestellt: Zwei rote Karten gegen Torwart Alisson wurden annulliert

In gleich vier entscheidenden Szenen wurde der Referee Wilmar Roldán vom Videoschiedsrichter an das TV-Gerät am Spielfeldrand gerufen, "der hat mehr Zeit vorm Bildschirm verbracht als auf dem Rasen", sagte Ecuadors Gonzalo Plata. Das 1:0 durch Casemiro und das 1:1 durch Félix Torres (75.) erkannte er ohne Probleme an. Bei der roten Karte gegen Ecuadors Torwart Alexander Domínguez (15.), der Cunha einen Kung-Fu-Tritt und damit eine knutschfleckartige Markierung am Hals verpasste, war es schon schwieriger: Der Unparteiische hatte nach dem attentatsähnlichen Foul den falschen Spieler vom Platz gestellt.

Danach wurde Roldán bei zwei Elfmetern für Ecuador vom Videoschiedsrichter an den Bildschirm gerufen; ebenso bei zwei roten Karten gegen Brasiliens Torwart Alisson Becker, die er wieder annullierte. Der Keeper vom FC Liverpool gilt nun als der erste Torwart der Geschichte seit Einführung des VAR, der zwei Mal in einem Spiel vom Videoschiedsrichter begnadigt wurde - das zweite Mal trug sich übrigens in der Nachspielzeit zu, als der Ball in der ebenfalls dünnen Luft von Quito (2 850 Meter über N.N.) einfach stehen blieb und er mit der Faust nicht nur das Spielgerät, sondern auch den gegnerischen Stürmer abräumte.

Brasiliens Nationaltrainer Tite ärgerte sich dennoch: "Es geht nicht an, dass der Referee aus dem Land des Tabellenvierten (Kolumbien) kommt, wenn der Erste gegen den Dritten spielt." Doch auch das - "der Mangel an Sensibilität bei der Benennung des Schiedsrichters" - fällt unter die Rubrik: kontinentaler Standard.

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