Es ist wahrlich ein langer Abschied, den Brigitte Seebacher von der Sozialdemokratie nimmt. Ihren Büchern über Erich Ollenhauer, August Bebel und Willy Brandt hat sie nun ein monumentales Werk ("Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie") hinzugefügt, das auf vielen Seiten vor allem eines aussagt: Es ist vorbei. Die Sozialdemokratie soll am Ende ihrer Geschichte angelangt sein. Überzeugend dargelegt wird das nicht. So kundig die Historikerin diverse Details aus der Geschichte der SPD und der Arbeiterbewegung heranzieht, bleibt vieles letztlich doch sehr skizzenhaft und unbelegt.
Da werden - man kennt es nicht anders von der Autorin - die "Enkel" der SPD pauschal abgewatscht, also Rudolf Scharping, Gerhard Schröder, Björn Engholm und Oskar Lafontaine. Da wird weiter gegen Egon Bahr ausgeteilt (angeblich war für ihn "Freiheit" ein Fremdwort) - ein alter Streit, den Seebacher, Willy Brandts letzte Ehefrau, auch nach Bahrs Tod fleißig weiterführt. Vieles ist schwach begründet und wird wenig ausgeführt, oft nur als Seitenhieb eingebaut. Ähnliches gilt für die Studentenrevolte der Jahre um 1968, für deren Einordnung Seebacher die narzisstischen Komponenten herausstellt ("hochmütig, ichbezogen, bindungslos"), sich aber unfähig oder unwillig zeigt, der Bewegung in ihrer sozialen und historischen Komplexität gerecht zu werden.
Leistungen und Erfolge? Kommen sehr kurz
Was die Lektüre zusätzlich anstrengend macht: Dem Buch fehlt ein roter Faden. Seebacher kann zwar im Prinzip gut erzählen und griffig formulieren, reiht jedoch Urteil an Urteil, Detail an Detail, ohne die Leserinnen und Leser zu führen, die Episoden schlüssig zu ordnen und ihren Zusammenhang zu verdeutlichen. So wirkt manches wie ein Selbstgespräch. Die Autorin fängt nicht bei Adam und Eva an, dafür bei Bebel und Lassalle, hangelt sich durch die vielen Parteitage der SPD-Geschichte, baut Exkurse in andere europäische Länder ein und lässt dabei kaum ein gutes Haar an der jüngeren Entwicklung der Sozialdemokratie. Leistungen und Erfolge? Kommen sehr kurz. Eine Auseinandersetzung mit Olaf Scholz und den jüngsten Etappen in der SPD-Geschichte? Fehlt komplett.
Für Seebacher hat die SPD ihr historisches Werk längst erledigt, diese Diagnose wird jedoch soziologisch kaum untermauert. Ja, natürlich, die Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung, die in den Anfängen der Sozialdemokratie so prägend waren, existieren in dieser Form nicht mehr. Es ist eine Binsenweisheit, die es verdiente, genauer betrachtet zu werden. Doch das Buch belässt es bei dieser schlichten Wahrheit, ohne sich intensiver mit den Widersprüchen des digitalen Kapitalismus oder mit der jüngeren Literatur über Milieus, Schichten und Klassen auseinanderzusetzen, beispielsweise mit Andreas Reckwitz' Drei-Klassen-Modell. Wie immer man es begrifflich fasst, es gibt noch genügend bedrückende soziale Probleme und Abstände in der Gesellschaft (erst recht global betrachtet), die Sozialdemokraten nicht ruhen lassen (sollten) - und es ist schon deshalb schwer vorstellbar, dass Willy Brandt, lebte er noch, die SPD heute an ihrem Ende sähe. Sollte Brigitte Seebacher glauben, auch in seinem Sinne die sozialdemokratische Geschichte nicht nur erzählt, sondern auserzählt zu haben, wäre das Buch nicht nur wenig ergiebig, sondern geradezu ärgerlich.