So ein Geburtstag ist immer auch ein Anlass für Anekdoten. Lars Klingbeil bringt das ständige Hadern der SPD mit sich selbst so auf den Punkt: "Ich weiß noch, wie ich als junger, dynamischer Abgeordneter in so eine Ortsvereinsversammlung kam, und wir hatten gerade den Mindestlohn beschlossen", erzählt der SPD-Chef. Er sei wahnsinnig stolz gewesen. Und dann habe er nur Genörgel gehört, zu viele Ausnahmen, alles zu wenig. "Das ist typisch Sozialdemokratie." Dass man sich nicht mal fünf Minuten auf die Schultern klopfen könne und sagen: "Super, das haben wir durchgesetzt - das macht mich kirre."
Es ist ein großer Auflauf im Willy-Brandt-Haus an diesem Montagabend, das Motto lautet "Fortschritt braucht Gerechtigkeit". Auf roten Bannern, die über mehrere Stockwerke verteilt an den Balustraden im Atrium angebracht sind, gibt man sich ganz digital. Mit lauter Symbolen aus der Welt der sozialen Medien, die umreißen sollen, wofür man seit 160 Jahren steht. Ein Megafon für die Rufe nach Veränderung. Die Faust für den Kampf für Arbeitnehmerrechte. Der Hammer als Zeichen der Arbeit. Der Regenschirm, um Krisenzeiten wie auch heutzutage in Sachen Energiepreise abzufedern. Das Venussymbol als Zeichen für Gleichberechtigung, im Rahmen der Festtage werden auch 16 sozialdemokratische Frauen aus 16 Jahrzehnten gewürdigt.
Am 23. Mai 1863 gründete Ferdinand Lassalle in Leipzig den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, es war die erste überregionale deutsche Arbeiterpartei, daraus ging dann die SPD hervor. Heute hat sie noch rund 380 000 Mitglieder und 7223 Ortsvereine. Das älteste Mitglied ist gerade 108 Jahre alt geworden, und die längste noch bestehende Mitgliedschaft läuft seit 78 Jahren. Lars Klingbeil und Saskia Esken mögen als Vorsitzende im Schatten einiger großer Vorgänger stehen, aber sie arbeiten kontinuierlich an den Themen Verjüngung und Geschlossenheit, machen dadurch auch Kanzler Olaf Scholz das Leben zumindest mit seiner Partei leichter.
"Manchmal sind wir nicht die Schrillsten und Lautesten."
"Manchmal sind wir nicht die Schrillsten und Lautesten, haben es aber immer geschafft, Brücken in die Gesellschaft zu bauen", sagt Klingbeil. Esken fordert einen neuen Bildungsaufbruch und eine demokratische Gestaltung der Digitalisierung. "Es ist an uns, die Voraussetzungen zu schaffen, dass alle ihren Weg gehen können", sagt sie, "ganz gleich, ob sie Bauarbeiterin, Lehrer, Influencerin, Industriearbeiter, Professorin, Architekt oder Politikerin werden wollen. Jedenfalls: glücklich."
Sinnbildlich für den Wandel auch in der Mitgliedschaft steht die junge ostdeutsche Abgeordnete Rasha Nasr, Tochter syrischer Einwanderer, die auf dem Podium von ihrem Weg in die SPD erzählt und vom Ringen um ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Klingbeil betont, wie sich die Zeiten gerade durch das Internet verändert hätten, unter welchem Dauerdruck Politiker stünden, ständig sofort reagieren zu müssen. Konrad Adenauer habe noch die Tradition des Mittagsschlafs gepflegt, und: "Mit dem Politikstil von Willy Brandt oder Helmut Schmidt kommst du heute vielleicht auch nicht mehr durch."
Die SPD wird gerne für ihre Geschichtsbezogenheit belächelt, aber diese Feierlichkeiten zeigen auch, wie sie ihre Kraft daraus zieht. Und immer von besonderen Personen geprägt wurde. Franz Müntefering, der nach einer Operation aber nicht anwesend sein kann, bekommt für sein Lebenswerk den August-Bebel-Preis verliehen. Der Wahlkämpfer Günter Grass hat mal festgestellt, dass bei jungen Kandidaten das historische Wissen über die SPD ausbaufähig sei; gerade um die sozialdemokratische Identität zu begreifen. Schatzmeister Dietmar Nietan macht deutlich, es brauche auch weiter das historische Wissen, um Gesetzmäßigkeiten von Ausbeutung und Unterdrückung zu verstehen und zu ändern: "Wer die Geschichte nicht kennt, für den ist es schwer, einen Standpunkt zu finden für die Orientierung in der Zukunft."
Die Geschichte wird in einem schmissigen Video abgehandelt
Die Geschichte wird beim offiziellen Festakt in einem schmissigen Video abgehandelt, dort wird auch versucht, einen Umgang mit einem zu finden, der nicht eingeladen worden ist. Die rot-grüne Zeit unter Kanzler Gerhard Schröder wird als Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs gewürdigt, die Zeit nach der Kanzlerschaft lieber ignoriert. Schröders Nachfolger, der mit viel Beifall bedachte Kanzler Scholz, geht auf Schröder kurz ein, aber äußerst sparsam. "Das historisch begründete Spannungsverhältnis zwischen hohem programmatischem Anspruch - einige würden sagen: utopischem Überschuss - und der Notwendigkeit, pragmatisch zu handeln, hat die Sozialdemokratie immer geprägt", sagt er in seiner Rede.
"Dieses Spannungsverhältnis kennzeichnete die Amtszeiten von Willy Brandt und Helmut Schmidt - und auch noch die von Gerhard Schröder." Der Pragmatiker Schmidt habe daher nicht ganz richtiggelegen mit seiner auf Brandt gemünzten Spitze, wer Visionen habe, der solle doch besser zum Arzt gehen, sagt Scholz. "Es war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage", so habe Schmidt sich ja selbst davon distanziert. Da wird sogar gelacht. Der Schmidt-Satz ist nicht wegzukriegen, von Scholz sind es bisher eher Schlagworte wie "Doppel-Wumms", die hängen geblieben sind.
Im Prinzip steht diese Kanzlerschaft bisher phänotypisch für die Geschichte der SPD. Epochenbrüche, sich der neuen Zeit anpassen, Positionen hinterfragen. Seit - mit Einfluss Chinas - aus Sicht von Scholz die nukleare Bedrohung durch Russland geringer geworden ist, hat er sich mutiger gezeigt bei Waffen- und Panzerlieferungen an die Ukraine. Nun macht er, die Distanz zum Russland-Freund Schröder könnte kaum größer sein, eine klare Ansage: Es sei "unausweichlich, dass wir die ukrainische Nation in ihrem tapferen Verteidigungskampf (...) mit aller Kraft unterstützen: humanitär. Wirtschaftlich. Mit Waffen. Und vor allem: auf Dauer", sagt Scholz. Den Krieg dürfe und werde Russland nicht gewinnen. "Dieses bittere Kapitel der Geschichte unseres Kontinents, heraufbeschworen von Wladimir Putin in seinem imperialistischen Wahn, wird damit enden, dass sich die freie Ukraine als vollwertiges Mitglied der Europäischen Union anschließt", prophezeit Scholz.
Aber er kann natürlich auch die Gegenwart in seiner schwierigen Koalition nicht verschweigen. Und schafft es dabei, den Bogen zur gesamten Geschichte zu spannen, am Beispiel des Streits um das Heizungsgesetz. Er erinnert an die Ahrtalkatastrophe, die Bilder aktuell aus Italien: "Das hört nicht mehr auf." Aber ohne ein Geländer, in diesem Fall finanzielle Unterstützung, wird das aus seiner Sicht nicht klappen. "Wir wissen: Sicherheit durch Wandel und Sicherheit im Wandel - beides gehört zusammen", bringt Scholz den historischen Anspruch der Sozialdemokratie auf den Punkt. Und kann sich eine Spitze gegen die Grünen nicht verkneifen. Das sei kein Thema einer ganz bestimmten Partei, "wie manche immer noch meinen". Es gehe hier um eine existenzielle Transformation - aber es kommt aus seiner Sicht halt auf die Art der Umsetzung an.