Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat bei seinem ersten Deutschlandbesuch seit fast vier Jahren Israel zwar scharf für den Krieg im Gazastreifen kritisiert. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Freitagabend in Berlin wiederholte er aber auch auf Nachfrage vorherige Äußerungen nicht, in denen er Israel Faschismus vorgeworfen und das Existenzrecht des Staates Israel zumindest indirekt infrage gestellt hatte.
Mit Bezug auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel, den er nicht als solchen bezeichnete, sagte Erdoğan, der 7. Oktober werde "als Anfang dargestellt" - und weniger das, was darauf gefolgt sei. "Wir sprechen von 13 000 Kindern, Frauen, alten Menschen, die getötet worden sind", sagte er mit Blick auf Israels Militäroperation. Es gebe kaum noch einen Ort, "den man Gaza nennen kann. Alles wurde dem Erdboden gleichgemacht", sagte Erdoğan. Er verwies darauf, dass Israel militärisch überlegen sei und über Atomwaffen verfüge. Wer jetzt schweige, werde den Preis zahlen in der Geschichte. Die Türkei sei nicht "durch diesen Werdegang des Holocaust gegangen" und stehe nicht in der Schuld Israels, fügte der türkische Präsident hinzu.
"Jedes Leben ist gleich viel wert", sagte der Kanzler
Scholz räumte ein, dass es unterschiedliche Sichtweisen auf den Krieg gebe und bekräftigte die Position der Bundesregierung, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung habe. Deutschland verurteile den Terrorangriff der Hamas auf das Schärfste und fordere, dass die Geiseln unverzüglich und ohne Bedingungen freigelassen werden. Erdoğan setzte sie wiederum gleich mit von Israel festgehaltenen Palästinensern, von denen viele ohne ein Urteil in sogenannter Administrativhaft gehalten werden.
Zugleich müsse Hilfe für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen geleistet und humanitäre Feuerpausen ermöglicht werden, sagte Scholz. Deutschland sehe auch das Leid der Palästinenser im Gazastreifen. "Jedes Leben ist gleich viel wert", sagte der Kanzler. Er verwies darauf, dass Deutschland zu den größten Gebern gehöre und die humanitäre Hilfe auf 160 Millionen Euro aufgestockt habe. In Deutschland gebe es keinen Platz für Antisemitismus. Zugleich "trete ich denen entgegen, die den fünf Millionen Muslimen in unserem Land den Platz absprechen wollen", sagte der Kanzler.
Gemeinsamkeiten zeigten sich bei den Vorstellungen für eine Lösung des Konfliktes. Sowohl Scholz als auch Erdoğan sprachen von einer Zweistaatenlösung. Erdoğan sagte, die Türkei und Deutschland müssten einen Beitrag für eine humanitäre Feuerpause leisten. Er habe Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gebeten, sich bei seinem bevorstehenden Besuch in Israel dafür einzusetzen. Steinmeier hatte Erdoğan am Nachmittag nach dessen Ankunft in Berlin im Schloss Bellevue empfangen.
Erdoğan will Exporte von Rüstungsgütern zwischen Nato-Partnern "ohne Beschränkungen"
Als weitere Themen ihres Gesprächs, das sich im Zuge eines Abendessens an die Pressekonferenz anschließen sollte, nannten Scholz und Erdoğan Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, Schwedens Beitritt zur Nato, die bilateralen Beziehungen und Fragen der Migration. Scholz würdigte das konstruktive Engagement der Türkei, um Getreidelieferungen aus der Ukraine über das Schwarze Meer zu ermöglichen, und bedauerte, dass Russlands diese Vereinbarung nicht fortsetze.
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Er sprach sich für eine Fortsetzung des Flüchtlingsabkommens der EU mit der Türkei aus und kündigte an, mit Erdoğan auch über die Rückführung illegaler Einwanderer sprechen zu wollen. Scholz äußerte zudem die Erwartung, bald Fortschritte bei der Aufnahme Schwedens in die westliche Verteidigungsallianz zu machen. Der Beitritt muss noch vom türkischen Parlament ratifiziert werden. Auch sprach sich der Bundeskanzler für einen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen aus. Da seien Deutschland und die Türkei in den vergangenen Jahren "unter ihrem Potenzial" geblieben. Für ein stärkeres Engagement deutscher Unternehmen sei aber Rechtsstaatlichkeit in der Türkei wichtig.
Erdoğan verlangte, Exporte von Rüstungsgütern müssten zwischen den Nato-Partnern "ohne Beschränkungen möglich sein". Verteidigungsminister Yaşar Güler hatte am Donnerstag angekündigt, die Türkei wolle 40 Kampfjets vom Typ Eurofighter kaufen. Deutschland ist Teil eines Konsortiums mit Großbritannien und Spanien, das die Flugzeuge gemeinsam baut. Laut der Nachrichtenagentur Anadolu sagte Güler, Großbritannien und Spanien sagten "Ja" zu einem Verkauf an den Nato-Verbündeten. Nun arbeite man daran, Deutschland zu überzeugen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit äußerte sich nicht dazu, wie die Regierung zu diesen Wünschen steht. Zudem bekräftigte der türkische Präsident seine Forderungen nach einer Ausweitung der Zollunion mit der EU und nach eine Liberalisierung der Visavergabe. Bis dies erreicht sei, müssten die Verfahren vereinfacht und beschleunigt werden.