Lateinamerika:Nutzt Nicaragua Migranten als Druckmittel?

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Einwanderer überqueren die Grenze zwischen Mexiko und den USA im texanischen El Paso. (Foto: John Moore/Getty)

Die USA ringen um Möglichkeiten, die Zahl der Einwanderer aus Lateinamerika zu verringern. Das wissen autoritäre Regime dort - und versuchen es für sich zu nutzen.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Es ist nicht so, als hätte Nicaragua nichts zu bieten - ganz im Gegenteil sogar: Das Land liegt in Mittelamerika, im Westen der Pazifik, im Osten das Karibische Meer, der Atlantik, dazwischen Strände, Seen, Städtchen und Vulkane. So gesehen ist es nur verständlich, dass Menschen nach Nicaragua kommen. Allein: Bleiben wollen viele nicht. Und mehr noch: Oft wollen sie sogar so schnell wie möglich wieder weg. Träumen sie doch nicht von einzigartiger Kultur und unberührter Natur, sondern von den Vereinigten Staaten von Amerika.

Lange war Nicaragua in der Welt vor allem bekannt für seinen Kaffee, linke Revolutionäre und leider auch skrupellose Diktatoren. Heute steht es zunehmend im Ruf, ein vergleichsweise einfaches und günstiges Einfallstor für den Weg in die USA zu sein. Im Netz kursieren Videos, in denen Migranten von ihren Reisen aus Mittel- nach Nordamerika berichten. Oft werden hierbei die unkomplizierten Einreiseauflagen gepriesen: Meist ist gar kein Visum nötig, teilweise wird dieses erst nach Ankunft erteilt, und das gilt nicht nur für Touristen aus der Europäischen Union, sondern auch für Reisende aus Kuba oder Kasachstan, Russland oder Ruanda, Sambia, Simbabwe oder der Zentralafrikanischen Republik.

Fast 500 gecharterte Flüge aus Kuba und Haiti sollen seit August gelandet sein

Dass viele Menschen aus diesen Ländern nicht kommen, um Urlaub zu machen, sondern weil sie Nicaragua als Durchgangsstation auf dem Weg in die USA nutzen wollen, hat die Regierung in der Hauptstadt Managua bisher zumindest toleriert. Mittlerweile aber, so scheint es, wird der Grenzverkehr sogar noch gefördert: So sollen in den vergangenen Monaten eine ganze Reihe von gecharterten Flugzeugen aus Kuba und vor allem Haiti in Nicaragua gelandet sein. Fast 500 Flüge seit August, Tendenz stark steigend: Allein am vergangenen Wochenende sollen drei Dutzend Maschinen aus der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in Managua gelandet sein, berichtet die regierungskritische Nachrichtenseite Confidencial .

Mehrere Zehntausend Menschen aus Haiti und Kuba könnten so in den vergangenen Wochen und Monaten über Nicaragua auf das amerikanische Festland gekommen sein. Und weil jüngst ihre Zahl noch einmal gestiegen zu sein scheint, ist nun der Verdacht aufgekommen, dass es Nicaragua und dem dortigen Machthaber Daniel Ortega weniger um das Menschenrecht auf Migration geht, und vielmehr darum, Druck auszuüben auf die USA. "Ortega benutzt Migration als Waffe", twitterte Manuel Orozco, der Direktor des Programms "Migración, Remesas y Desarrollo" von Diálogo Interamericano, einem von privaten und öffentliche Geldern unterstützten Thinktank in den USA.

Tatsächlich versucht US-Präsident Joe Biden gerade mehr oder minder verzweifelt, der stetig steigenden Zahl von Menschen Herr zu werden, die über die Südgrenze der Vereinigten Staaten ins Land kommen. Die Gouverneurin des Bundesstaats New York, Kathy Hochul, hat wegen der hohen Zahl von Flüchtlingen den Notstand ausgerufen und der Bürgermeister von New York City, Eric Adams, sagte, wenn nicht bald etwas passiere, werde der Zustrom der Migranten "die Stadt zerstören".

US-Präsident Biden ist unter Druck, auch, weil in einem Jahr Wahlen stattfinden. Und so ist es vermutlich kein Zufall, dass man in Washington Mitte Oktober bekannt gab, eine ganze Reihe von Sanktionen auszusetzen, welche die USA gegen die Regierung von Venezuela verhängt hatten. Diese hatten eigentlich einmal zum Ziel, das Regime des dortigen Machthabers Nicolás Maduro zu Fall zu bringen. Am Ende aber trugen die Sanktionen mit dazu bei, die Wirtschaft des einst so reichen südamerikanischen Ölstaates in eine tiefe Krise zu stürzen. Rund sieben Millionen Venezolaner verließen daraufhin ihre Heimat, die große Mehrzahl ging nach Kolumbien, Brasilien, Chile oder Argentinien. Viele machten sich aber auch auf den weiten und beschwerlichen Weg in die USA. Dort sind die Venezolaner längst die größte Migrantengruppe geworden, während die Regierung von Nicolás Maduro immer noch an der Macht ist.

Einige Sanktionen gegen Venezuela haben die USA bereits ausgesetzt

Herrschte lange eine politische Eiszeit zwischen Caracas und Washington, so haben sich die Beziehungen in den vergangenen Monaten verbessert. Einerseits liegt das daran, dass seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine das Interesse an Öl aus Venezuela wieder gestiegen ist. Dazu kommt aber auch, dass es im Land selbst zaghafte Versuche gibt, die heimische politische Krise zu entschärfen. Kommendes Jahr zum Beispiel sollen Wahlen stattfinden. Die aussichtsreichsten Oppositionskandidaten sind zwar nicht zugelassen, dafür aber immerhin internationale Beobachter, so steht es zumindest in einem Vertrag, den Opposition und Regierung kürzlich auf Barbados unterschrieben haben.

Dieser gilt offiziell als Hauptgrund dafür, dass die USA kurz darauf einen Teil ihrer Sanktionen gegen Venezuela ausgesetzt haben. Eine Rolle gespielt haben dürfte dabei inoffiziell aber auch, dass sich die Regierung in Washington gleichzeitig mit der in Caracas darauf einigte, Abschiebeflüge durchzuführen. Die ersten Maschinen mit venezolanischen Flüchtlingen aus den USA landeten in Caracas jedenfalls schon kurz nach Bekanntgabe der Aufhebung der Sanktionen.

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Die Regierung in Nicaragua, so der Verdacht, könnte nun Ähnliches versuchen. In dem mittelamerikanischen Land geht Machthaber Daniel Ortega schon seit Jahren immer heftiger gegen Kritiker vor. Proteste werden niedergeknüppelt und -geschossen. Studentenführer und selbst katholische Geistliche sitzen in Haft. Und viele unabhängige Journalisten und Oppositionspolitiker haben das Land verlassen.

Die USA haben darum gegen Ortega und mehrere Mitglieder seiner Familie Sanktionen verhängt. Um zu erreichen, dass sie wieder ausgesetzt werden, so der Verdacht, könnte die Regierung in Nicaragua nun Migranten als Druckmittel einsetzen. Ethisch ist das zwar fragwürdig, in der Praxis aber anscheinend effektiv. Für die kommenden Tage sind jedenfalls weitere Charterflüge von Kuba und Haiti nach Nicaragua geplant.

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