Dieses Buch liefert reichlich Stoff für Kontroversen. Man ist gut beraten, sich während der Lektüre von "Das nomadische Jahrhundert" stets an die Bitte der Autorin Gaia Vince zu erinnern. Die britisch-australische Wissenschaftsjournalistin schreibt in ihrer Einleitung, man möge ihrem Werk über Migration als Folge von Klimawandel mit "offenem Geist" begegnen und "radikale Lösungen" nicht sofort als "nicht plausibel" verwerfen.
Ihre Argumentation geht so: Bis zum Ende des Jahrhunderts wird sich die Erde vermutlich um vier Grad erwärmen. Die Region um den Äquator wäre dann zu heiß für Menschen, Landwirtschaft wäre dort unmöglich. 3,5 Milliarden Menschen müssten in nördliche Breitengrade umsiedeln. Manche Gebiete dort, wie etwa Sibirien, würden bewohnbar. Es müssten Megastädte in ökologischer Bauweise errichtet werden, in denen die Menschen auf engem Raum lebten.
Ein bewusst pessimistischer Ansatz
Mit diesem Szenario wählt Vince bewusst eine pessimistische, Aufsehen erregende Vorhersage. Es gibt laut Weltklimarat IPCC allerdings auch andere Prognosen, die mit einer geringeren Erderwärmung rechnen, je nachdem, wie lange und wie viele Treibhausgase die Menschen noch ausstoßen. Als relativ sicher gilt laut Klimarat, dass das Ziel der UN-Konferenz von 2015 gerissen wird. Danach soll der von Menschen verursachte Temperaturanstieg bis 2100 im Vergleich zur Periode von 1850 bis 1900 auf 1,5 Grad begrenzt werden.
Vince wirft den Regierungen vor, dass sie viel zu wenig unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Sie führt an, dass schon heute zehn Mal mehr Menschen aufgrund von Umweltkatastrophen flüchten als aufgrund von Gewalt. Und es werden stetig mehr werden. Sie nennt konkrete Beispiele, wie etwa Jakarta, wo Migration schon im Gang ist oder bevorsteht. Die Hauptstadt Indonesiens mit ihren zehn Millionen Einwohnern versinkt schneller im Meer als jede andere Stadt auf der Welt, weil der Wasserspiegel steigt. Die Regierung verlegt deshalb die Hauptstadt in den Osten der Insel Borneo.
Aber auch im globalen Norden zeigt der Klimawandel Folgen. Nach dem Hurrikan Sandy wurden laut Vince in Florida in Gebieten, die von Überschwemmung bedroht sind, 20 Prozent weniger Häuser verkauft als in weniger gefährdeten Gebieten. Es werde zunehmend schwieriger, Immobilien zu versichern, schreibt die Autorin. Überall auf der Welt nähmen Waldbrände, Sturzregen, Dürre und Überschwemmungen zu. Ein Blick in die täglichen Nachrichten zeigt, dass die Autorin recht hat.
Vince verdeutlicht, dass die Klimafolgen die ärmeren Länder stärker treffen als die reicheren, weshalb auch die künftige Migration von Süd nach Nord stattfinde. Arme Länder liegen oft geografisch ungünstig, und es fehlen ihnen die finanziellen und technischen Mittel, um sich zu schützen. Vince will daher den Kampf gegen die Klimakatastrophe nutzen, um gleichzeitig die Welt gerechter zu machen.
Mit einer Welt-Staatsbürgerschaft in die Offensive?
Spätestens angesichts dieses Mammutanspruchs drängen sich aber Fragen der Plausibilität auf, auch wenn man das Werk mit offenem Geist liest. Die Autorin möchte Menschen je früher, desto besser zur Migration motivieren und diese weltweit steuern, damit sie friedlich abläuft. Dazu schlägt sie eine übernationale Behörde mit Durchsetzungsbefugnis vor, die die Migranten auf die Megastädte verteilt.
Die Menschen müssten sich als Weltgemeinschaft begreifen und nicht länger zufällige Geburtsorte und Nationalstaaten als Grundlage für Lebenschancen akzeptieren, fordert Vince. Neben der bisherigen Staatsbürgerschaft sollen die Menschen daher eine zusätzliche Welt-Staatsbürgerschaft bekommen, die sie berechtigt, überall zu wohnen und zu arbeiten. Institutionen wie die Europäische oder die Afrikanische Union zeigten erste gute Ansätze für Freizügigkeit. Das kann man, gelinde gesagt, auch anders sehen. Man denke nur an den Quoten-Streit in der EU für migrierende Menschen, die Toten im Mittelmeer oder die Schikanen an zahlreichen afrikanischen Grenzen.
Die rechtsextremen Populisten kommen gar nicht vor
Vince erkennt an, dass ihre Idee des Weltbürgertums Ängste hervorrufen würde. Deshalb müssten die Staaten mit Sozial- und Infrastrukturprogrammen für Einheimische und Migranten gegensteuern. Zu finanzieren wären solche Programme dank umweltverträglichen Wirtschaftswachstums und steuerlicher Umverteilung von Reich nach Arm.
Unerwähnt bleibt in ihrem Buch allerdings, wie Vince es verhindern will, dass noch mehr verängstigte Wähler demokratiefeindlichen Politikern auf den Leim gehen. Diese Bedenken kann sie auch nicht vom Tisch wischen, indem sie die Vorzüge der Migration überbetont und beschreibt, wie sich die Menschheit dank Migration entwickelt hat. Immerhin räumt sie ein, dass schon im frühen Zeitalter Völkerwanderungen teilweise mit Gewalt einhergingen.
Plausibel ist ihr ökonomisches Argument, dass Einheimische in den überalternden Gesellschaften und Migranten gemeinsam profitieren, wenn die Wirtschaft wächst, weil es genug Fachkräfte gibt. Das setzt aber voraus, dass die Menschen verschiedener Kulturen friedlich zusammenleben und der Wohlstand gerecht auf alle Bürger verteilt wird.
Befremdlicher Glaube an technische Lösungen
Etwas befremdlich wirkt Vinces unbedingter Glaube an die Technik. Diese könne fast jedes Problem lösen, wohingegen Aufforderungen zu umweltfreundlichem Verhalten von "puritanischen Aktivisten" kaum weiterhelfen würden. Vinces Ideen, um die Erderwärmung zu stoppen, reichen von Atomkraft über Fleisch, das aus dem Labor statt von wiederkäuenden Kühen stammt, bis zum Ausbringen von Sulfatpartikeln in die Stratosphäre. Dass die Atomkraft ein Entsorgungsproblem des radioaktiven Abfalls hat, erwähnt sie nicht. Bedenken gegen unerprobte Techniken des Geoengineering begegnet sie schlicht mit dem Aufruf zu mehr Mut für Neues.
Man muss Vinces Argumentation nicht in allen Teilen folgen. Aber ihr Werk ist dennoch ein interessantes Gedankenspiel über machbare und weniger machbare Strategien gegen den Klimawandel. In jedem Fall zeigt es, was die nächsten Generationen erwarten könnte, wenn die jetzige Generation weiterhin das Klima ruiniert.