Nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wird der deutschen Außenpolitik vorgeworfen, die Welt mit allzu idealistischen Augen zu betrachten. Stichworte sind eine "wertegeleitete" oder - seit Annalena Baerbock (Grüne) das Außenamt innehat - auch "feministische" Außenpolitik. Harte nationale Interessen hingegen würden selten vertreten, geschweige denn durchgesetzt, und auch die Formulierung strategischer Positionen sei kaum möglich, da die eigenen Moralvorstellungen dies gar nicht zuließen.
Die Lektüre des Buches des in Hongkong lehrenden deutschen Historikers Daniel Marwecki über die deutsch-israelischen Beziehungen seit Gründung des Staates Israel 1948 nährt hingegen Zweifel, wie valide diese Lesart tatsächlich ist. Oder ob sich hinter der moralisierenden Fassade nicht vielmehr eine speziell deutsche Art von Interessenpolitik verbirgt, die zwar einerseits größtmögliche moralische Ambitionen formuliert, andererseits jedoch recht pragmatisch entlang der eigenen Interessen agiert. Die seit den frühen 2000er-Jahren forcierte Abhängigkeit von russischer Energie, die von praktisch allen internationalen Partnern scharf kritisiert wurde, gleichwohl dem deutschen Industriestandort massiv nutzte, spräche ebenso dafür wie die jahrzehntelang praktizierte Auslagerung der Gewährleistung äußerer Sicherheit an die USA, um mit dem so gesparten Geld heimische Begehrlichkeiten zu bedienen.
Der englische Titel spricht treffend von "Whitewashing"
In seinem Buch, das auf Englisch 2020 unter dem treffenden Titel "Germany and Israel: Whitewashing and State-Building" erschienen ist, argumentiert Marwecki, dass die frühen deutsch-israelischen Beziehungen zuvorderst auf einem Tauschgeschäft im beiderseitigen Interesse beruhten. Israel habe Deutschland die Möglichkeit zur "Wiedergutmachung" für die unfassbaren Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus gestattet, obwohl es dafür emotional keine Grundlage gab. Deutschland wiederum habe als einziges Land den jüdischen Staat von Anfang an wirtschaftlich, finanziell und auch mit Waffen unterstützt und ihm so seine Etablierung und letztlich Existenz ermöglicht. Dass die Wiedergutmachungsleistungen für deutsche Unternehmen zugleich ein Konjunkturprogramm bedeuteten, wurde als Nebeneffekt gerne mitgenommen. Die 1952 im Luxemburger Abkommen vereinbarten Entschädigungszahlungen entsprachen im sich abzeichnenden westdeutschen Wirtschaftswunder lediglich 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Marwecki zitiert den israelischen Historiker Tom Segev, der einmal pointiert festgestellt hat, dass nach 1945 der deutsche Weg nach Washington - sprich in den Westen - über Jerusalem geführt habe, während der israelische Pfad unter den Schutzschirm der USA über Bonn verlaufen sei. Erst mit dem Sechs-Tage-Krieg 1967, als Israel seine Stellung als militärisch bedeutsame Regionalmacht unter Beweis gestellt habe, hätten die USA Deutschland als Schutzmacht des jüdischen Staates abgelöst; sehr zur Erleichterung der Regierenden in Bonn, die sich spätestens im Zuge der Ölkrise der 1970er-Jahre um ihre Beziehungen zur arabischen Welt sorgten.
Gab es wirklich ein "Wunder der Versöhnung"?
In den 1950er- und 1960er-Jahren dienten die Beziehungen zu Israel den handelnden deutschen Politikern, allen voran Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß, somit als ein Vehikel, um zwei aus ihrer Sicht für den Bestand des westdeutschen Staates existenzielle Voraussetzungen zu schaffen: zum einen die dauerhafte Westeinbindung der BRD; zum anderen die geräuschlose Wiedereingliederung alter Nazi-Kader in den nunmehr demokratischen Staat.
Wenn heute im politischen Diskurs vom "Wunder der Versöhnung" zwischen Deutschland und Israel die Rede ist, oder Deutschland als Musterschüler der Vergangenheitsbewältigung hofiert wird, ist das für Marwecki eine aus der Gegenwart heraus vorgenommene Projektionsleistung. Speziell die Frühphase des deutsch-israelischen Verhältnisses war eine Geschichte der interessengeleiteten Realpolitik, bei der ohne den Zuspruch des jeweils anderen die eigene Existenz als gefährdet wahrgenommen wurde.
Dennoch wäre es verfehlt, die Grundlage der deutsch-israelischen Aussöhnung ausschließlich auf Eigennutz zu reduzieren. Marwecki weist darauf hin, dass das Israel-Engagement nicht nur den deutschen Antisemitismus nach 1945 gebändigt, sondern auch frühzeitig das Augenmerk auf den Holocaust sowie das Schicksal Israels gelenkt habe; und so ein "zivilisatorisches Element" in der politischen Kultur geschaffen worden sei, das der Glaubwürdigkeit deutscher Politik in Bezug auf Israel Vorschub geleistet habe.
Allzu viel Neues in der Sache liefert Daniel Marweckis Buch nicht. Doch eröffnet es einen klaren und nüchternen Blick vor allem auf den Beginn der deutsch-israelischen Beziehungen. Und liefert einen Beleg dafür, dass man mit einer klug austarierten Interessenpolitik in den internationalen Beziehungen langfristig mitunter mehr Gutes erreichen kann, als mit zwar klangvollen, letztlich aber illusorischen moralischen Zielsetzungen.