"Gipfeltreffen" vor Europawahl:Ein Sieg der Gerechtigkeit über die Spannung

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Von links nach rechts: Andrea Nahles, SPD, Bernd Riexinger, Die Linke, Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen, Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU, Markus Söder, CSU, Christian Lindner, FDP, und Jörg Meuthen, AfD. (Foto: Gregor Fischer/dpa)

Sieben Parteivorsitzende diskutieren vor der Europawahl in der ARD. Allzu oft bleiben sie in nationalen Debatten stecken. Trotzdem haben die 90 Minuten ihren Wert.

TV-Kritik von Nico Fried, Berlin

Um 22:17 Uhr, also nach 77 Minuten Sendezeit, geschieht das eigentlich Undenkbare: Bernd Riexinger gibt dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner recht. Nur ausnahmsweise und an einer Stelle, wie der Chef der Linken gleich dazu sagt - aber immerhin. Beide Politiker plädieren für eine faire Handelspolitik gegenüber Afrika, um wirtschaftliche Not als Fluchtursache zu bekämpfen. Die politische Kurzumarmung zwischen Riexinger und Lindner ist der harmonische Höhepunkt einer insgesamt sehr disziplinierten Spitzenrunde zur Europawahl in der ARD.

Das 90-minütige Treffen der Vorsitzenden aller im Bundestag vertretenen Parteien ist über weite Strecken mehr Staatsexamen als Streitgespräch: Die Moderatoren Tina Hassel und Christian Nitsche fragen in einem vorgegebenen Zeitrahmen die Positionen der Parteien ab. Die Prüflinge antworten mit möglichst vielen Botschaften in möglichst eingängigen Formulierungen, unterbrechen sich fast nie, und am Ende haben alle insgesamt etwa sechseinhalb bis sieben Minuten geredet. Keiner beschwert sich, unterm Strich siegt so die Gerechtigkeit über die Spannung.

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Die Sendung ist gut gemeint und bemüht gemacht. Die bekannten Gesichter aus der deutschen Politik sollen den Wettbewerb vor der Europawahl besser erkennbar werden lassen, der mit den weithin unbekannten Spitzenkandidaten nicht recht in Gang kommt. Das gelingt bei manchen Themen, zumindest in Schlagworten. Allzu oft jedoch reduziert sich die Diskussion auf den Austausch von Argumenten, die aus der innenpolitischen Diskussion hinlänglich bekannt sind. Das Europäische ist stets das große Ganze, aber selten das wirklich Konkrete.

Natürlich beginnt die Sendung aus aktuellem Anlass mit den Geschehnissen in Wien. Sechs von sieben Parteivorsitzenden nutzen die Ibiza-Affäre der FPÖ, um vor Rechtspopulisten auch außerhalb Österreichs zu warnen. Andrea Nahles (SPD) zum Beispiel spricht von einem Denkzettel für die Rechten, Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) von einem Signal, dass man diese Parteien nicht wählen solle, und Christian Lindner stellt das österreichische Koalitionsdebakel in eine Reihe mit dem Scherbenhaufen, den Populisten schon beim Brexit verursacht hätten. Allein AfD-Chef Jörg Meuthen sieht eine rein innerösterreichische Angelegenheit und die FPÖ in der Kontinuität staatspolitischer Selbstbedienung der anderen österreichischen Parteien.

Es wird dem Fall Strache in den ersten Minuten etwas viel Aufmerksamkeit zuteil, gerade so als habe Österreich noch immer die geografischen Ausmaße und politische Bedeutung des Habsburger Reiches. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer schließt eine Zusammenarbeit mit Rechtspopulisten aus. SPD-Chefin Andrea Nahles versucht, CDU und CSU als Schwesterparteien der ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz trotzdem mit in die Verantwortung zu ziehen, weil sie nicht gegen die Koalition in Wien protestiert hätten. CSU-Chef Markus Söder erinnert im Gegenzug an die Koalition der österreichischen Sozialdemokraten mit der FPÖ im Burgenland. Und so versickert die österreichische Affäre schließlich im innerkoalitionären Treibsand.

Es geht dann ums Soziale und als erstes um Regeln für einen europäischen Mindestlohn, der von den linken Parteien, inklusive Grüne, eher befürwortet, von der rechten Seite der Runde eher abgelehnt wird. Besonders weit ist die Spannbreite bei Transferzahlungen innerhalb Europas: Während AfD-Chef Meuthen Förderprogramme abbauen und die Arbeitsmarktpolitik renationalisieren will, plädiert die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock für höhere Beiträge in die EU-Kassen, weil Deutschland in der Vergangenheit besonders von Europa profitiert habe und nun mehr für den sozialen Zusammenhalt in der Zukunft investieren könne. Bernd Riexinger will Reiche stärker besteuern und den öffentlichen Nahverkehr kostenlos machen. SPD-Chefin Nahles verteidigt einmal mehr die Idee einer europäischen Arbeitslosen-Rückversicherung.

Es gibt aber auch Passagen in dieser Sendung, in denen man Neues erfahren kann. Besonders gelungen sind drei Schalten, in denen Korrespondenten Geschichten aus anderen europäischen Staaten erzählen: über die Europa-Skepsis und die innenpolitischen Querelen in Tschechien, über den Nutzen europäischer Programme gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und über die Lage von Flüchtlingen auf der griechischen Insel Lesbos. Das sind interessante Berichte über europäische Mängel, aber auch über Erfolgsgeschichten. Manchem deutschen Vorurteil dürfte allein schon dadurch entgegengewirkt worden sein, dass spanische Auszubildende auch noch um 21.30 Uhr an ihren Werkbänken arbeiten, wenn das deutsche Fernsehen live zu ihnen schaltet.

Zurück im etwas sterilen Studio frisst sich die Diskussion der Parteivorsitzenden beim Thema Klimaschutz an Kerosinsteuern und CO2-Bepreisung fest. Annegret Kramp-Karrenbauer lässt an diesem Thema besonders deutlich erkennen, wie weit bei ihr die Schere zwischen unbestreitbarem Wissen im Detail und mangelhafter Prägnanz in der Formulierung gelegentlich auseinanderklafft. Doch die Union verfügt ja in diesen Diskussionsrunden über den ebenso unschätzbaren wie fragwürdigen Vorteil, immer zweimal reden zu dürfen. Der CSU-Chef Markus Söder erhält so an diesem Abend wiederholt die günstige Gelegenheit, rhetorische Umständlichkeiten der CDU-Vorsitzenden in einigen wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen.

Auch die Migrationspolitik spielt noch einmal eine Rolle, dominiert aber die Diskussion nicht mehr so wie noch im Bundestagswahlkampf vor zwei Jahren. Als Jörg Meuthen eine Festung Europa fordert, wechselt Moderatorin Tina Hassel kurzzeitig von der Moderatorin zur Kommentatorin und wirft dem AfD-Chef Zynismus vor. Das hätte sie besser vermieden, denn es gibt Meuthen nur die unnötige Gelegenheit zu einem demonstrativ empörten Auftritt und konterkariert die Souveränität, mit der sechs Parteivorsitzende die Provokationen eines siebten bis dahin hatten abperlen lassen.

Am Ende sind 90 Minuten vergangen, die Deutschlands Bürgerinnen und Bürger nicht gleich in Scharen in die Wahlkabinen treiben werden. Aber dass eineinhalb Stunden lang fast durchgehend zivilisiert über Politik gesprochen werden kann, ist in diesen Zeiten ja auch schon ein Wert an sich.

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