Es ist Dienstag, kurz nach zwölf Uhr. Mittagessenszeit. Aber Martin Schulz hat etwas anderes vor. Er sitzt in einem Büro in Brüssel und beantwortet Fragen - live auf Facebook. Es ist der Tag, bevor Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Europäischen Parlament seine Grundsatzrede zur Lage der EU halten wird. Martin Schulz (SPD) wird die anschließende Debatte, eine der "wichtigsten des Jahres", wie er sagt, leiten. Vorher aber nimmt er sich Zeit, um sich von den europäischen Bürgern befragen zu lassen.
Es geht um Jugendarbeitslosigkeit, die Folgen des Brexit und um die innereuropäische Sicherheit. Facebook-Nutzer hatten seit Freitag die Gelegenheit, ihre Fragen an den Parlamentspräsidenten loszuwerden. Jetzt bekommen einige von ihnen Antworten. Martin Schulz sagt, dass Großbritannien so schnell wie möglich die Verhandlungen über den EU-Austritt beginnen müsse. Dass gegen Islamophobie nur Dialog helfe. Dass man in diesen turbulenten Zeiten eher mehr statt weniger Europa benötige. Dass Rechtspopulisten auf dem ganzen Kontinent es sich zu leicht machen, wenn sie keine Lösungen aufzeigen und lediglich auf angeblich Schuldige zeigen.
"Ich mache mehr Sport und fühle mich gut"
Schulz fasst sich bei all diesen Antworten kurz. Das gibt den Moderatoren der Fragerunde die Gelegenheit, von einem Thema zum anderen zu jagen. Von der Flüchtlingspolitik zum geplanten Freihandelsabkommen TTIP. Von wirtschaftlichem Wachstum zum US-Präsidentschaftswahlkampf. Wenn Martin Schulz antwortet, schaut er einzig und allein in die Kamera. So, als würden die Moderatoren rechts und links neben ihm gar nicht existieren.
Die Botschaft ist klar: Der Zuschauer soll sich angesprochen fühlen - auch, weil Martin Schulz das eine ums andere Mal menschelt. Welche Pizzasorte er am liebsten esse, will einer der Nutzer wissen. "Ich mag Pizza generell sehr gerne. Aber ich habe in den letzten vier Monaten keine einzige Pizza gegessen", entgegnet der 60-Jährige. Die Waage habe für seinen Geschmack ein paar Kilo zu viel angezeigt, erklärt er. Seitdem bemühe er sich, den täglichen Kampf ums Abnehmen zu gewinnen. "Ich mache mehr Sport und fühle mich gut."
Martin Schulz durchlebt in diesen Tagen den Anfang vom Ende seiner Präsidentschaft im Europäischen Parlament. Seit Juli 2014 ist er zum zweiten Mal Chef der Abgeordnetenversammlung, im kommenden Januar ist die Hälfte der Wahlperiode beendet. Und damit auch Schulz' Zeit als Parlamentspräsident. Er soll sein Amt an einen Vertreter der Europäischen Volkspartei (EVP) abgeben. So haben es die europäischen Christ- und Sozialdemokraten nach der Europawahl vereinbart. Doch Schulz scheint nicht abgeneigt, seine Aufgabe in Brüssel und Straßburg fortzuführen.
SPD:Martin Schulz bringt sich ins Spiel
Der Präsident des Europäischen Parlaments versucht sich im Spagat: Er würde es sich zutrauen, der nächste SPD-Kanzlerkandidat zu sein - und er steht zugleich treu zu Parteichef Gabriel.
In Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat er einen starken Fürsprecher. Mehrfach hat sich der Luxemburger und EVP-Vertreter dafür ausgesprochen, mit Schulz weiterarbeiten zu wollen. Wegen der "schwierigen Zeiten", die Europa bevorstünden, wie Juncker vor wenigen Wochen in einem Spiegel-Interview sagte. Bei den Mitgliedern seiner Fraktion erntet er für diesen Vorstoß Unverständnis. Abmachung sei Abmachung, heißt es etwa aus der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament.
Juncker und Schulz sind Duzfreunde, vertreten in europäischen Fragen oft eine gemeinsame Linie. "Es passt nicht sehr viel Papier zwischen uns", hat Jean-Claude Juncker jüngst gesagt. Als 2014 das Europaparlament gewählt wurde, schienen beide zumindest auf den ersten Blick noch Gegenspieler zu sein. Juncker trat als Kandidat der Christdemokraten für das Amt des Kommissionspräsidenten an, Schulz für die Sozialdemokraten. Juncker gewann knapp. Schulz hatte die Wahl verloren und wurde Vorsitzender seiner Fraktion. Nach zwei Wochen legte er das Amt nieder, um Präsident des Europäischen Parlaments zu werden. Seitdem sind Schulz und Juncker keine Gegenspieler mehr. Eher sind sie so etwas wie politische Partner.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Juncker sich bald mit einem neuen Parlamentspräsidenten arrangieren muss. Schulz, so die Spekulationen, soll sich für diesen Fall bereits für einen Einstieg in die Bundespolitik vorbereiten. Kandidiert er im kommenden Jahr als Spitzenkandidat der SPD? Schulz hat Fragen wie diese zuletzt unbeantwortet gelassen. Im Live-Interview bei Facebook wird das gar nicht erst thematisiert. Die EU steht im Mittelpunkt.
In Zeiten, in denen das Misstrauen der Bürger gegenüber Politikern wächst, scheinen Features wie das Live-Video von Facebook den Mächtigen dieser Welt gerade recht zu kommen - insbesondere für Frage-Antwort-Spiele wie das von Martin Schulz. Transparenz soll das zeigen, der Befragte soll als Mensch wie du und ich präsentiert werden. Authentisch soll das Ganze sein.
Es ist schlicht unmöglich, alle Fragen zu beantworten
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) war im Spätsommer 2015 der erste deutsche Politiker, der Facebook-Live als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit für sich entdeckte. Viele haben es ihm seither nachgemacht. Seit Facebook im Frühjahr das Tool allen Nutzern zugänglich gemacht hat, scheinen viele Ottonormalverbraucher ihre Erfahrungen machen zu wollen. Einige machen ihre Facebook-Freunde aus dem Urlaub neidisch, Journalisten berichten über Rechercheergebnisse von Unglücksorten - und wieder andere schalten die Handykamera ein, wenn sich ein tödlicher Schusswechsel anbahnt.
Das Problem, wenn Politiker sich das Tool zu Eigen machen: Es ist schlicht unmöglich, alle Fragen zu beantworten. Mehr als 800 Fragen sind bis zum Mittag unter dem Facebook- Post des Europäischen Parlaments eingelaufen. Also wird ausgewählt, meist vom Moderator des Live-Videos. Und da wird es mit der Transparenz auch schon wieder schwierig. Warum werden welche Fragen gestellt, weshalb werden welche kritischen Nachfragen ausgelassen? Angesichts der Masse an Reaktionen ist es kaum möglich, das begründet darzustellen. Facebook Live kann allein deshalb statt einer Chance für Politik kontraproduktiv sein - nämlich dann, wenn der Nutzer im Anschluss den Eindruck hat, eher ein vorbereitetes denn ein spontan geführtes Gespräch gesehen zu haben.
Eine halbe Stunde nimmt Martin Schulz sich für das Facebook-Interview Zeit. Viel Neues verrät er den Zuschauern nicht. Das liegt auch daran, dass unter den gestellten Fragen kaum eine ist, über die in der Vergangenheit nicht schon ausgiebig diskutiert worden wäre. Verlorenes Wählervertrauen wird Schulz mit diesem Video wohl kaum zurückgeholt haben.