Europäische Union:Die nächste Zerreißprobe für die Koalition

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Zwei Vorsitzende, zwei Meinungen zur Asylreform: die Grünen-Spitzenpolitiker Omid Nouripour und Ricarda Lang. (Foto: Britta Pedersen/picture alliance/dpa)

Nach der Zustimmung von Innenministerin Nancy Faeser zur EU-Asylreform bricht bei den Grünen, aber auch in der SPD Streit aus. In beiden Parteien regt sich Widerstand, dass sich Europa noch stärker abschottet.

Von Markus Balser und Georg Ismar, Berlin

Im Verhandlungssaal in Luxemburg herrschte ungläubige Stimmung, als der Kompromiss beschlossen war. Schwedens Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard schüttelte den Kopf, dann begann die Verhandlungsführerin am Donnerstagabend zu klatschen. Nach jahrelangem Streit hatten sich die 27 EU-Mitglieder gerade auf eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik geeinigt. Als "historisches Ergebnis" feierte auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) den Kompromiss. Der Beschluss könne sich sehen lassen, lobte die Ministerin selbst. Auch die FDP signalisierte Zustimmung.

Dass sich Faeser in der Asylpolitik der Mehrheit in Europa beugte und einer noch stärkeren Abschottung gegen Flüchtende zustimmte, halten in der Regierungskoalition allerdings nicht alle für lobenswert. Vor allem Teile der Grünen sind empört. Schon Minuten nach der Einigung brach heftiger Streit in den Foren der Partei aus - bis ganz weit hinauf in ihre Spitze. Der Vorschlag zur Asylreform werde "dem Leid an den Außengrenzen nicht gerecht und schafft nicht wirklich Ordnung", empörte sich selbst Parteichefin Ricarda Lang. Deutschland hätte "nicht zustimmen dürfen". Ihr Co-Chef Omid Nouripour widersprach in einem bemerkenswerten Vorgang und bezeichnete den Beschluss als "notwendigen Schritt, um in Europa gemeinsam voranzugehen".

Auf den Zinnen ist besonders die Parteilinke. "Heute ist vielleicht der bitterste Tag meines politischen Lebens", sagte der Parlamentarier Julian Pahlke. "Es ist auch demokratietheoretisch ein Desaster, dass Faeser das Gegenteil vertreten hat von dem, was im Koalitionsvertrag fachlich ausgehandelt wurde." Mit der Einigung werde die Situation an den Außengrenzen massiv verschlechtert und das Asylrecht brutal beschnitten, kritisierte der Innenpolitiker Marcel Emmerich. Auch die Grüne Jugend reagierte entsetzt. "Das ist unmenschlich, und ich werde das so nicht akzeptieren", sagte der Co-Vorsitzende Timon Dzienus.

Außenministerin Baerbock wirbt in Partei und Fraktion für den Kompromiss

Grüne Regierungsmitglieder versuchten, in der eigenen Partei zu vermitteln. Außenministerin Annalena Baerbock etwa änderte kurzerhand das Programm ihrer Kolumbien-Reise, um per Videoschalten in Partei und Fraktion für den Kompromiss zu werben. "Zur Ehrlichkeit gehört: Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätten beschließen können, dann sähe sie anders aus", schrieb sie in einem Brief an die Fraktion. "Aber zur Ehrlichkeit gehört auch: Wer meint, dieser Kompromiss ist nicht akzeptabel, der nimmt für die Zukunft in Kauf, dass niemand mehr verteilt wird."

Die Reform sieht einen deutlich härteren Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive vor. So sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen an der Außengrenze kommen. Dort soll innerhalb von drei Monaten geprüft werden, ob Antragsteller Chancen auf Asyl haben. Wenn nicht, sollen sie zurückgeschickt werden. Gleichzeitig wurde ein verbindlicher Mechanismus zur Verteilung von Geflüchteten vereinbart - mit finanziellen Strafen für jene Länder, die keine Geflohenen aufnehmen wollen.

Zu Ärger führt in der Koalition vor allem, dass Faeser von der zuvor festgelegten Linie abwich. Ziel war es demnach, dass in jedem Fall Familien mit Kindern von den sogenannten Grenzverfahren ausgenommen werden sollten. Doch Faeser fand zu wenige Unterstützer. Selbst in der Kanzlerpartei regt sich gegen den Kompromiss Widerstand. "Es ist inakzeptabel, dass man sich bei einem Kompromiss von Europas Rechtspopulisten, zum Beispiel aus Italien, treiben lässt", sagte der Bundestagsabgeordnete und führende Parteilinke Sebastian Roloff der SZ. "Die Rechte von verzweifelten Geflüchteten einzuschränken, ist immer die schlechteste Option." Das sei "mit dem Grundgedanken Europas nicht zu vereinbaren".

Innenministerin Faeser kündigte zwar an, dass die Bundesregierung gemeinsam mit Portugal, Irland und Luxemburg im weiteren Gesetzgebungsprozess auf europäischer Ebene für Ausnahmen für Familien kämpfen wolle. Sie ließ eine entsprechende Protokollnotiz verankern. In der Grünen-Spitze aber wächst die Sorge, dass sich der parteiinterne Konflikt ausweiten und sogar den überwunden geglaubten Flügelstreit zwischen Realos und Parteilinker wieder aufbrechen lassen könnte. Nach vielen Kompromissen, etwa beim Streckbetrieb von Atomkraftwerken oder dem Klimaschutz, hadert die Partei mit ihrer Rolle in der Koalition. Zwar hält Parteichef Omid Nouripour eine Kanzlerkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl für möglich. Doch die Umfragewerte sinken. Zuletzt kamen die Grünen nur noch auf 14 Prozent - den niedrigsten Wert seit Start der Ampelregierung.

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