Holocaust-Gedenktag:"Es kann keinen Schlussstrich geben"

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Eine freiheitliche, offene Gesellschaft sei keine Selbstverständlichkeit, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Der Bundestag erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt stehen zum ersten Mal verfolgte sexuelle Minderheiten.

Bundesweit wird an diesem Freitag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Im Bundestag gab es eine Gedenkstunde. Daran nahmen auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzler Olaf Scholz (SPD) teil. Im Mittelpunkt der Gedenkfeier standen erstmals Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas eröffnete die Sonderveranstaltung im Parlament. "Viele in der Bundesrepublik meinen, wir hätten uns schon genug mit der Shoah beschäftigt", sagte sie. Das sei ein Irrtum. "Es kann keinen Schlussstrich geben." Eine freiheitliche, offene Gesellschaft sei keine Selbstverständlichkeit. Das zeigten rassistische, antisemitische, antiziganistische und queerfeindliche Taten in der jüngeren Vergangenheit. "'Nie wieder' - das ist ein Auftrag. Für uns alle. Jeden Tag. Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher", so Bas.

Es sei die Aufgabe jeder Generation, sich von Neuem mit den Verbrechen der Geschichte auseinanderzusetzen und die Geschichte aller Verfolgten zu erzählen. Auf die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten hätten sexuelle Minderheiten lange vergebens gewartet.

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Bei der Gedenkstunde des Bundestages hielt die Holocaust-Überlebende Rozette Kats eine Rede. "Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung", sagte die 80-Jährige. "Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz", ergänzte sie mit Blick auf heutige Ausgrenzung und Gewalt gegen Homosexuelle.

Kats beklagte in ihrer Rede, dass es Jahrzehnte gedauert habe, bis Opfergruppen wie Sinti und Roma sowie Homosexuelle als Opfer der Nazis anerkannt wurden. Damit habe die Ideologie der Nazis weiter wirken können und tue es immer noch, "wenn wir Gewalttaten gegen queere Menschen noch immer erleben müssen".

Holocaust-Überlebende Rozette Kats sprach bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Eltern wurden in Auschwitz ermordet

Bewegend schilderte Kats vor dem Parlament ihr eigenes Schicksal. Als sie acht Monate alt war, versteckten ihre Eltern sie 1943 bei einem Ehepaar in Amsterdam, bevor sie selbst deportiert und in Auschwitz ermordet wurden. Am Abend vor ihrem sechsten Geburtstag habe ihr Adoptivvater sie über ihre echten Eltern aufgeklärt. Dies habe Fragen aufgeworfen und ihr Angst gemacht.

"Alles war viel zu schrecklich für ein Kind von sechs Jahren", sagte Kats. Sie habe aus Angst beschlossen, weiter die Maske des "nicht-jüdischen Kindes" zu tragen. Sie habe ein Doppelleben geführt, das sie krank gemacht habe. Erst 1992 habe sie auf einer Konferenz für die vor den Nazis versteckten Kinder andere Menschen kennengelernt, die ihr Schicksal teilten. "Das war meine Befreiung", sagte Kats. Seitdem berichte sie in Schulen und Gedenkstätten über ihre Geschichte.

"Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen konnte, ist noch nicht selbstverständlich"

Als Vertreter der queeren Community sprach Klaus Schirdewahn aus Mannheim, der selbst 1964 nach dem in der Nazi-Zeit verschärften Paragrafen 175 verhaftet worden war. Der Paragraf, der homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, wurde erst 1994 im deutschen Recht aufgehoben. Noch immer sei die queere Community Bedrohungen und Benachteiligungen ausgesetzt: "Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen konnte, ist noch nicht selbstverständlich", sagte Schirdewahn.

Vor der Veranstaltung im Bundestag erinnerte Kanzler Scholz an die historische Verantwortung Deutschlands für die Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Auf Twitter schrieb er: "Unvergessen ist das Leid von sechs Millionen unschuldig ermordeten Jüdinnen und Juden - genauso wie das Leid der Überlebenden." Damit dies nie wieder geschehe, erinnere man am Holocaust-Gedenktag an die historische Verantwortung Deutschlands.

Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im besetzten Polen befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet. 1996 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Tag der Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz zum Gedenktag erklärt. Im ganzen Land finden am Freitag Veranstaltungen statt, um an die von den Nazis verfolgten und ermordeten Juden, Sinti und Roma, Behinderten und Vertretern anderer Opfergruppen zu erinnern.

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