Essay "Wehrlose Demokratie?":Repressive Prävention

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Mehr als nur eine Floskel? Das Brandenburger Tor am 9. November 2023. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Warum gefährdet der grassierende Antisemitismus die Demokratie? Und wie muss der Staat darauf reagieren? Politikwissenschaftler Samuel Salzborn liefert erhellende Antworten.

Rezension von Robert Probst

Dem Grundgesetz steht ein wichtiges Jubiläum bevor. Erste Wünsche sind bereits zahlreich eingetroffen, obwohl es bis zum 23. Mai noch ein wenig hin ist. Es geht dabei zuvorderst darum, die deutsche Verfassung und die zugehörigen Staatsorgane fit zu machen für die Herausforderungen oder besser gesagt Anfeindungen der Gegenwart und der Zukunft; Stichworte wären etwa AfD und Bundesverfassungsgericht. Dass die Demokratie aber nicht nur von Rechtspopulisten und -extremisten attackiert wird, darauf weist Samuel Salzborn nun in einem wuchtigen Essay hin. Ihm geht es um "Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung". Sein Beitrag soll als dringender Wunsch nach mehr wehrhafter Demokratie gelesen werden.

Der Antisemitismusforscher, Politikwissenschaftler und Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus hat die komplexe Problemlage bereits in vielen Werken aufgearbeitet, das Büchlein ist nun eine extreme Verdichtung, das trotzdem stark von der Freude am akademischen Formulieren geprägt ist, eine große Portion Politische Theorie inklusive.

Aggressive antimoderne Weltanschauung

Wer dranbleibt, versteht aber schnell, warum der Antisemitismus als aggressive antimoderne Weltanschauung, "zu der die Vernichtungsandrohung immer dazugehört", die Destruktion der Demokratie zum Ziel hat und wie hierbei Rechtsextremisten, linke Antiimperialisten und radikale Islamisten trotz aller sonstigen ideologischer Zwietracht an einem Strang ziehen, um gegen eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung anzukämpfen. Salzborn setzt bei den Rezepten zwar auch auf Aufklärung und Prävention, aber letztlich vielmehr auf "Konzepte der politischen, sozialen und (straf)rechtlichen Bekämpfung", etwa auf die Aufnahme von Anti-Antisemitismusklauseln in Landesverfassungen, Versammlungsverbote und eine Anpassung des Strafrechts.

Samuel Salzborn: Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung. Verlag Hentrich & Hentrich, Leipzig 2024. 144 Seiten, 17 Euro. (Foto: Hentrich & Hentrich)

Und warum nicht mit mehr Pädagogik? "Ein friedliches System wie die Demokratie kann nur friedlich sein und bleiben, wenn es sich mit allen Optionen legitimierter Gewalt gegen seine Feinde wehrt, weil jene den friedlichen und diskursiven Umgang mit Konflikten ontologisch ablehnen, also den Modus Operandi des Demokratischen nicht anerkennen." Der Staat habe das sehr spät, aber immerhin endlich erkannt, doch nach wie vor fehle es oft am politischen Willen, hier effektiver voranzukommen. Salzborns Fazit: "Die Professionalisierung der wehrhaften Demokratie hat gerade erst begonnen."

Auf den Büchertisch zu 75 Jahren Grundgesetz kommt obendrauf, "dass der Kampf gegen Antisemitismus elementarer Teil des bundesdeutschen Selbstverständnisses als wehrhafte Demokratie ist" oder eher: werden muss.

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