Ich befinde mich dieser Tage in Kampala, Uganda. Gestern habe ich mich bei einem Gemüse-Verkäufer über die Unförmigkeit seiner Orangen und Karotten beschwert. Seine Antwort war, dass eine hässliche Orange einen schönen Saft ergebe und eine schiefe Karotte eine schmackhafte Suppe. Wie recht er doch hatte. Und wie sehr einen zehn Jahre in einem anderen Land doch verändern. In Uganda, meiner einstigen Heimat, hat sich bis heute in einem wenig geändert: Das Gemüse darf dort auf den Märkten jegliche Form haben, die sich diese Erde ausgedacht hat. Es landet in den Einkaufskörben - und dann auf den Tellern.
Zehn Jahre Einkaufserfahrung in Deutschland hinterlassen Spuren. Karotten haben schnurgerade zu sein, wie aus einer Klon-Fabrik. Gewölbte Gurken sind wahre Raritäten, und einen Sellerie samt Hohlraum habe ich lange nicht mehr in der Hand gehalten. Nur: Schreiben das eigentlich die Supermärkte und Discounter sich selbst so vor - oder folgen sie lediglich der Erwartungshaltung der Kunden?
Die Rückkehr nach Uganda ist wie eine Rückkehr in eine andere Welt - und führt vor Augen, dass nicht alles so selbstverständlich sein muss, wie es in München wirkt. Auf und in den Märkten hier sehe ich niemanden, der mit strengem Blick eine Aubergine nach der anderen aus der Kiste greift und sich ein wohlgeformtes und beulenfreies Exemplar in den Korb legt.
Meinung Typisch deutsch:Mutter fiel die Teekanne aus der Hand
Fußball-WM in Katar, einem arabischen Land: bei der Vergabe jubelte unser Autor. Wie denkt er zwölf Jahre danach?
Klar, es geht hier oft um Ethnologie, um Kulturen und deren Gepflogenheiten. Vieles gilt es zu akzeptieren und oft muss man sich anpassen. Manchmal aber tue ich mich damit schwer. In diesem Fall ist das nach nach dem jüngsten Perspektivwechsel so. Obst- und Gemüse wird in deutschen Supermärkten nur in die Regale gelangen, nachdem ein strenger Optik-Check stattgefunden hat. Wie bei einem Nachtclub mit Dress-Code - wo dann drin alle gleichgebürstet aussehen wie auf den Titelseiten von Promizeitschriften. Die anderen kommen nicht rein. Die Krummen werden aussortiert.
Man möge es mir krumm nehmen, aber hier ist bei mir die Toleranzgrenze erreicht. Egal ob in Ostafrika oder in Süddeutschland. In diesen Tagen hoher Lebensmittelpreise und allgemeiner wirtschaftlicher Krise sind solche Befindlichkeiten nicht mehr zeitgemäß - wenn sie es je waren. Legt sie in die Regale, die großen und kleinen, die dicken und dünnen, die krummen und gekräuselten. Es macht keinen Sinn, Produkte wegzuwerfen, nur weil sie die "falsche" Form haben. Essen ist Essen, egal wie es aussieht. Dann verkauft halt die sogenannten hässlichen Gebilde günstiger, ich persönlich hätte nichts dagegen. Oder verschenkt sie, aber um Gottes Willen bringt sie unter die Leute. Nehmt euch das krumm!
Während der größte Teil Europas Lebensmittel verschwendet, fehlt es dem größten Teil Afrikas daran. Vielleicht beschreibt das, warum die Form des Gemüses dort kein relevantes Kriterium ist. In Uganda sagen die Leute: beurteile ein Buch nicht nach seinem Einband.
Gemüse hat menschliche Züge. Es kämpft im Laufe seines Wachstums gegen Hindernisse und Krankheiten. Gurken, Karotten oder Zucchini tragen in aller Regel Narben, die sie während ihrer Entwicklung erlitten haben. Sie sind deswegen nicht schief oder eingedellt oder gar unförmig. Sie sind so, wie Gemüse sein muss.
Ihre Flucht hat zwei Journalisten nach München geführt. In einer wöchentlichen Kolumne schreiben sie, welche Eigenarten der neuen Heimat sie mittlerweile übernommen haben. Die Kolumne "Typisch Deutsch" erscheint immer am Freitag oder Samstag auf der SZ-Leuteseite. Die gesammelten Texte finden sie hier .