Vier Wochen vor der Bundestagswahl:Erstaunliche Dynamik

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Bei den großen Parteien herrscht Verwunderung über den Absturz der Union und den Aufstieg der SPD. Die Sozialdemokraten glauben ans Kanzleramt, bei den Grünen nicht mehr jeder. Stimmen von der Basis.

Von Stefan Galler, Martin Mühlfenzl und Udo Watter

Noch vier Wochen bis zur Bundestagswahl - und mit Erstaunen, wahlweise mit Entsetzen oder Euphorie blicken die Parteien auf die Umfragen. Die SPD im Hoch, die Union im freien Fall und die Grünen hinter den eigenen Erwartungen. Was denken die Mitglieder? Die SZ hat sich an der Basis umgehört.

Für Anton Fritzmaier, den Vorsitzenden der CSU-Fraktion im Gemeinderat Hohenbrunn, ist es an der Zeit, den Blick aufs Wesentliche zu richten: "Die CDU/CSU muss sich jetzt als Union zeigen, einheitlich auftreten und gemeinsam um jede Stimme kämpfen. Denn es wird wirklich sehr eng", prophezeit der Unternehmer, der von einem späten Wechsel von Armin Laschet zu Markus Söder nichts hält. Laschet seien als Kanzlerkandidat "Pannen und Fehler" passiert, dennoch sei es "unrealistisch", vier Wochen vor der Wahl alles umzuwerfen: "Die Plakate sind gedruckt, wie soll das gehen?"

Gerlinde Koch-Dörringer, CSU-Gemeinderätin aus Kirchheim und lange Jahre Kreisvorsitzende der Frauen-Union, hält Laschet nicht für den optimalen Kanzlerkandidaten. "Der richtige Kandidat wäre Markus Söder gewesen." Dennoch gelte es jetzt, den Ministerpräsidenten aus Nordrhein-Westfalen zu unterstützen. "Wenn die Union nicht mehr mitregiert, sehe ich schwarz", sagt sie und muss wegen der politischen Farbenlehre lachen. Aber Laschet habe das Potenzial, sich zu entwickeln, er sei "auch nicht mit dem Lottoschein" in seine Position gekommen. Die Kirchheimerin arbeitet selbst in der Telefon-Wahlkampfkampagne mit. "Auch da höre ich oft, dass Söder es gewesen wäre." So ein bisschen Hoffnung auf einen Kandidatentausch hat sie noch: "Vielleicht gibt es ja noch ein Wunder."

Auf ein solches spekuliert Eduard Boger, Putzbrunner CSU-Gemeinderat, definitiv nicht: "Davon halte ich gar nichts, denn das wäre eine Angstaktion." Vielmehr müsse Laschet endlich konkreter werden: "Er versteht es bisher nicht, seine Botschaften rüberzubringen." Es sei nicht überraschend, dass sich im Schatten von Angela Merkel kein klarer Nachfolger entwickelt habe. Dennoch dürfe man den Rheinländer nicht unterschätzen: "Laschet ist ein Strippenzieher, kein Showman. Aber bei den jetzigen Herausforderungen brauchen wir auch keinen, der nur glänzt, sondern jemanden, der uns entscheidend nach vorne bringt." Eine rot-rot-grüne Koalition wäre "wirtschaftlich eine Katastrophe für das Land", sagt der Putzbrunner. Dabei müsse die Union froh sein, überhaupt noch im Rennen zu sein: "Hätten die Grünen Robert Habeck nominiert, wäre der wohl schon uneinholbar weg."

Jan Kämmerer, Vorsitzender der Jungen Union im Landkreis, setzt auf einen späten Meinungsumschwung: "Zuerst waren die Grünen vorn, jetzt ist es die SPD - und am Wahltag dann vielleicht die Union." Darin liege der Ansporn, auf der Zielgeraden alles rauszuhauen, "im Haustürwahlkampf, an Infoständen und auf Social Media". Dass die SPD plötzlich so gut dasteht, liegt für den Unterschleißheimer daran, dass sie sich im Wahlkampf auf ihre Kernthemen beschränkt. "Auch die Union sollte auf Schuldenbremse, Innovationen, Sicherung der Außengrenzen und innere Sicherheit setzen." Den Klimaschutz zu sehr in den Vordergrund zu stellen, bringe keine zusätzlichen Wähler. "Man sollte nicht schon mit Kompromissen in den Wahlkampf gehen."

Philipp Schwarz, Fraktionschef der Unterföhringer SPD im Gemeinderat, weiß, wie sich Niederlagen anfühlen. Bei der Kommunalwahl 2020 unterlag er als Bürgermeisterkandidat klar in der ersten Runde dem Amtsinhaber. An eine Niederlage aber will er bei der Bundestagswahl nicht denken. "Ich war schon etwas erstaunt, dass die SPD so eine Aufholjagd hingelegt hat", sagt Schwarz und hat eine Erklärung parat: "Scholz ist ein Wahnsinns-Wahlkämpfer." Während für manch andere Wahlkampf zermürbend sein könne. Der Aufstieg der SPD ist aus seiner Sicht aber nicht der Schwäche der anderen Kandidaten zu verdanken, sondern der Stärke des Wahlkämpfers Scholz und dessen "sachlicher und seriöser Art", die an Helmut Schmidt erinnere.

Diese Sachlichkeit betont auch Neubibergs SPD-Gemeinderätin Elisabeth Gerner - gerade in schwierigen Zeiten. Auch im Lichte der Afghanistan-Krise sagt Gerner, sei "die ruhige, besonnene Art" des eigenen Kanzlerkandidaten gefragt. Es komme aber auch auf die Inhalte an. "Und vielleicht spricht sich jetzt doch rum, dass die SPD gute und vernünftige Politik macht, die bei ihnen ankommt." Sie glaubt, dass die Partei und ihr Kandidat sogar noch mehr Potenzial haben: "Ich bin mir sicher, da sind bis zur Wahl sogar noch einige Prozentpunkte mehr drin. Die SPD kann stärkste Kraft werden."

Daran glaubt auch Juso Kevin Cobbe aus Aschheim. "Man merkt das an den Wahlkampfständen, dass sich die Stimmung dreht. Die Reaktionen fallen mittlerweile ganz anders aus. Und das motiviert, wir haben voll Bock auf Wahlkampf." Cobbe ist sich sicher, dass dieser Trend anders als beim Schulz-Zug 2017 nicht abebben wird. "Man merkt, das wird nachhaltiger sein." Die anfängliche Skepsis des SPD-Nachwuchses dem Kandidaten gegenüber will er nicht teilen: "Scholz hat sich zum Kandidaten der Herzen entwickelt. Und auch ich kann das Wahlprogramm voll unterstützen." Es gehe darum, bei der Wahl stärkste Kraft zu werden. Und danach? "Wichtig ist, eine Bundesregierung ohne Beteiligung der Union zu haben."

Sabine Athen, Gemeinderätin in Ottobrunn, setzt auf einen weiteren Scholz-Effekt: "Dass er es schafft, junge Menschen für die Politik zu begeistern. Die brauchen wir." Die Umfragewerte würden die SPD natürlich beflügeln. Athen wünscht sich, dass diese auch der spürbaren Politikverdrossenheit etwas entgegen setzen könnten. "Ich hoffe, dass wir die Menschen für unsere Themen begeistern können." Sie ist überzeugt, dass der Kandidat "in turbulenten Zeiten" der richtige sei: "Er ist verlässlich und packt die Themen mit seiner authentischen Art an." Natürlich würden die Kandidaten miteinander verglichen: "Und die anderen haben Fehler gemacht."

An eine Kanzlerin Annalena Baerbock glaubt Robert Gerb, Baierbrunner Gemeinderat, nicht mehr: "Es wäre schön, aber es ist unrealistisch." Klar habe sie Fehler gemacht, sei aber auch sehr unfair und "unter der Gürtellinie" kritisiert worden. Dass die Partei ihre gute Ausgangslage durch ungeschicktes Verhalten und Pannen - wie im Saarland, wo die Landesliste für die Bundestagswahl ausgeschlossen wurde - verspielt habe, findet er sehr ärgerlich. Der Kampfgeist ist indes ungebrochen: "Das Thema Klima ist viel zu wichtig. So wie es jetzt läuft, kommen wir nicht weiter." Die Grünen sollten daher in die Regierungsverantwortung kommen, auch wenn dafür Kompromisse nötig seien.

Optimistischer, was eine Kanzlerin Annalena Baerbock angeht, gibt sich Leon Matella , 23. Der Geografiestudent und Ottobrunner Gemeinderat setzt auf die finalen Wochen des Wahlkampfs. "Wir haben noch einen Monat und Umfragen sind volatil." Matella baut darauf, Wähler online anzusprechen, zumal große Präsenz-Veranstaltungen nicht möglich sind: "Wir haben dieses Jahr Dynamiken, die wir so noch nicht hatten." Er bedauert, dass die Inhalte so wenig im Vordergrund stünden. Um beim Thema Weltklima Fortschritte zu erzielen, sei es wichtig, dass die Grünen in die Bundesregierung kommen, zur Not als Junior-Partner. "Aber klar ist, dass wir das als Weltgemeinschaft schaffen müssen." Und: "Wir müssen es schaffen, den Leuten klar zu machen, dass wir nicht alles verbieten wollen."

Renate Grasse, Grünen-Gemeinderätin in Pullach, zeigt sich ebenfalls motiviert. "Wir haben uns einiges für den Wahlkampf einfallen lassen." So gebe es ein "Radlkino" in Pullach, das die Künstler Jörg Baesecke und Hedwig Rost im Zusammenarbeit mit dem Ortsverband gestaltet haben. "Beim Plakatkleben ist mir auch aufgefallen, dass wir mehr Themen als die anderen ansprechen: Nicht nur Klimaschutz, sondern auch Rassismus und Diversität." Zudem ist die eklatante soziale Ungleichheit im Land ein Thema, das Grasse bewegt. Den Umgang mit Baerbock, die keine "gravierenden Fehler" gemacht habe, fand sie "deprimierend". Baerbock habe zwar keine Regierungserfahrung, "ist aber ist außenpolitisch sehr kompetent".

Felicia Kocher, Grünen-Stadträtin in Garching, ist weit davon entfernt, die suboptimalen Umfrageergebnisse überzubewerten. "Wir müssen uns auf die Inhalte konzentrieren. Unser Wahlprogramm hat so viel zu bieten." Dass zuletzt mit "zweierlei Maß gemessen" wurde und auf "Versäumnisse der Grünen besonders geachtet", ärgert sie. Die junge Stadträtin hofft auf einen Umschwung, freut sich auf den Wahlkampf mit Infoständen, Veranstaltungen und Hausbesuchen. Sie glaubt an ein starkes Ergebnis. Dass die Grünen den Kauf von Lastenfahrräder bezuschussen wollen, sehe sie im größeren Rahmen: "Was den Klimaschutz angeht, werden wir strengere Vorgaben machen müssen. Und es ist - auch, um etwas auf kommunaler Ebene durchzusetzen - unglaublich wertvoll, wenn es da Förderung gibt."

Leon Matella ist überzeugt, dass der Erfolg der Grünen gedämpft, aber nicht vorbei ist. (Foto: privat)
© SZ vom 28.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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