Bei der Bundespolizei geht der Alarm um kurz nach halb acht Uhr ein. Jemand hat an jenem Dienstagmorgen einen Notausgang geöffnet. Der Grund: unklar. Der Ort: heikel. Die Tür führt in den Sicherheitsbereich des Münchner Flughafens. Die diensthabenden Beamten in der Einsatzzentrale lassen sich, so schildert das später die Bundespolizei, vom Sicherheitszentrum des Flughafens die Bilder der Videokameras an jener Tür auf den Computer schicken. Die Lage ist eindeutig: Ein Mann ist hindurchgegangen, in den Sicherheitsbereich hinein, und im Gewühl des Terminals 2 verschwunden. Den Polizisten bleibt keine Wahl: Nach wenigen Minuten, um genau 7.40 Uhr, lösen sie selbst Alarm aus, "Alarmstern" nennen sie das intern.
Das sei einfach eine Taste am Telefon, die drücke man und alle seien im Nu informiert, heißt es bei der Bundespolizei. Kein Boarding mehr, keine Passkontrollen, kein Koffer wird mehr verladen, keine Passagiere dürfen mehr durch die Sicherheitskontrollen, der U-Bahn-Shuttle zwischen dem Terminal und seinem Satellitenbau wird gestoppt. Am Flughafen ruht die Abfertigung, wie eingefroren. Nur für die Polizei, die das Terminal schließlich sogar räumt, fängt die Arbeit jetzt erst richtig an - und für die Passagiere der Ärger.
Am Ende jenes Dienstags, am Abend des 27. August 2019, stehen in der Bilanz: Dutzende verspätete und an die 200 komplett gestrichene Flüge, mehr als 25 000 betroffene Passagiere, Millionenkosten für den Flughafen und die Airlines. Allein die Lufthansa akquiriert binnen Stunden etwa tausend Hotelbetten im Umland, um Gestrandete unterzubringen. Am Ende stehen auch viele Fragen: Musste das alles sein? Lässt sich das nicht verhindern, dass ein Mann einfach so durch eine Tür geht, durch die er nicht gehen dürfte? Und wenn er es doch tut, muss man gleich große Teile von Deutschlands zweitgrößtem Flughafen lahmlegen?
Und dies war ja nicht der einzige Vorfall: Fünfmal ist in den Jahren 2018 und 2019 wegen eines Sicherheitsalarms im Erdinger Moos die Abfertigung gestoppt worden - und das sind nur die Vorfälle, die öffentlich bekannt wurden. Was ist da los? Und tut der Flughafen etwas dagegen? Eine Spurensuche.
Die Not mit den Notausgängen
An der Glastür, durch die der Mann gegangen ist, hängt jetzt wie an allen Notausgängen ein rotes Schild, fast einen Meter hoch, darauf eine abweisende Hand, "STOP" und "ALARM" in Großbuchstaben und dazu in mehreren Sprachen der Hinweis, dass dies ein Notausgang ist, der nur im Notfall zu nutzen sei. Wer ihn öffnen will, muss erst an einem grünen Kasten eine Plastikkappe abreißen und den grellroten Knopf darunter drücken. Dann blinkt eine weiße Lampe, es fiept laut - und erst dann lässt sich die Klinke und damit die Tür öffnen. Doch Missbrauch ist auch dadurch nicht sicher zu verhindern.
Der Flughafen hat nach den Zwischenfällen reagiert: An den Notausgängen hängen nun größere und mehrsprachige Warnschilder.
(Foto: Marco Einfeldt)Alexander Borgschulze bittet in ein Besprechungszimmer am Munich Airport Center, ein Ausweichraum des Flughafen-Krisenstabs. Borgschulze leitet die Konzernsicherheit. Nun lässt er auf dem Bildschirm an der Wand ein paar Videos von Überwachungskameras ablaufen. Sie zeigen: Einen jüngeren Mann mit Handy am Ohr, einen älteren Mann, ein Paar mit Gepäckwagen. Einer nach dem anderen steuert auf eine Notausgangstür zu, betätigt den Knopf, löst Alarm aus.
Wie oft das passiert, will Borgschulze nicht sagen. "Aber das kommt häufig vor." Wenn wie in diesen Fällen die Passagiere dann doch nicht durch die Tür gehen, sind die Folgen harmlos. Dann kommen sogenannte Alarmverfolger des Flughafens, kontrollieren die Tür, verriegeln sie und machen sie wieder alarmbereit.
Am 13. September 2019 aber öffnet ein Mann im Ankunftsbereich des Terminals 1 einen solchen Notausgang, der in den öffentlichen Bereich führt - dorthin, wo Familien und Freunde auf die Reisenden warten. Er geht hinaus. Direkt hinter ihm folgt ein zweiter Mann, wie die Bundespolizei berichtet. Einer der beiden bleibt draußen im öffentlichen Bereich, ihn findet die Polizei später: ein gut 50-jähriger Türke, der eine Anzeige bekommt, weil er die Grenzkontrolle umgangen hat. Der andere Mann hingegen geht nach wenigen Minuten durch denselben Notausgang zurück in den Sicherheitsbereich. Wieder Alarmstern, wieder stoppt die Polizei die Abfertigung. Denn sie kann auf den Videoaufnahmen nicht lückenlos nachvollziehen, was der Mann in der Zwischenzeit draußen gemacht hat, er hätte ja eine Waffe an sich nehmen können. Anderthalb Stunden dauert die Sperrung, die Polizei durchsucht den betroffenen Bereich und findet nichts, auch den Mann nicht. Man habe auf Videos nachvollziehen können, dass er normal durch die Passkontrolle gegangen sei, berichtet Bundespolizei-Sprecher Christian Köglmeier. Dann sei er verschwunden.
Die Notausgänge sind ein großes Problem, drei der fünf Sicherheitsvorfälle in den vergangenen 17 Monaten gehen auf sie zurück. "Die Tür muss ihren Zweck erfüllen, sich im Notfall so schnell wie möglich öffnen zu lassen", sagt Borgschulze. Etwa wenn es brennt oder eine Panik ausbricht. Lässt sie sich aber zu leicht öffnen, entsteht das Problem, dass Menschen oder Gegenstände unkontrolliert in den Sicherheitsbereich gelangen können.
Seit 2018 wurde nachgerüstet: Die großen roten Schilder mit der aufgedruckten Hand sind neu, "wir haben versucht, die Wahrnehmbarkeit zu erhöhen", erklärt Borgschulze. Vorher waren die Türen nur mit "Notausgang" beschriftet, die Warnung nur auf Deutsch und Englisch zu lesen. Seit einigen Wochen kommen überall Aufkleber dazu in Arabisch, Russisch und Chinesisch. Und man merke schon, dass die Zahl der Vorfälle, in denen Menschen Notausgänge irrtümlich für normale Türen halten, zurückgehe, sagt Borgschulze, wenn auch "nicht auf null".
Manche Türen haben neuerdings sogar eigene Bewacher: Bei jener, durch die am 27. August 2019 der Mann ging, steht nun ein Drehstuhl; darauf nimmt immer dann ein Mitarbeiter Platz, wenn hier Betrieb ist. Auch bei anderen neuralgischen Notausgängen hat das der Flughafen eingeführt. Bei allen werde man das aber nicht schaffen, sagt Borgschulze.