Vom Gate des Flughafens in Barcelona geht es nach langen Verzögerungen endlich aufs Rollfeld Richtung Chartermaschine. Nicht nur ein halbes Orchester quetscht sich in den Shuttle-Bus, sondern ein halbes Orchester samt Instrumentenkoffern. In wenigen Minuten sollen die Bamberger Symphoniker auf die Kanarischen Inseln nach Teneriffa abheben. Ein international renommierter Klangkörper auf dem Weg zum zweiten Konzert seiner Spanien-Tournee.
Dann zerschneidet ein spitzes Krachen das Busbrabbeln. "Get away from there!", ruft jemand. Immer wieder, immer lauter. Erneut ein Knacken, Kratzen, Krachen. Erst jetzt bemerkt auch der Rest: Die große Glasscheibe neben dem Sitzplatz einer jungen Geigerin ist gesplittert und droht jeden Moment, sich in Scherben über sie zu ergießen. Der Busfahrer hat in einer rasanten Kurve eine Betonsäule des Flughafengebäudes gestreift, ist an ihr hängen geblieben und drückt den Bus mit dem Gas jetzt noch fester an sie heran, statt zurückzusetzen. Dann schnellt ein langer Riss quer durch die Scheibe, aber sie hält.
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Drei Minuten später steigen die Orchestermusiker unversehrt die Treppe zu ihrem Flugzeug hinauf. "#WALD_ENSEMBLE" steht auf einem Koffer, der neben der Turbine hinaufgetragen wird. Es ist nur ein Aufkleber von vielen auf diesem Gepäckstück. Vielleicht ist es aber der passendste für diese erste Tournee des bayerischen Spitzenorchesters nach der langen Pandemie-Pause. Denn in Sachen Nachhaltigkeit gilt es als "Orchester der ersten Stunde", so Annette Lux, deren Unternehmen seit mehr als 50 Jahren Konzertreisen für die bekanntesten Orchester und Chöre weltweit organisiert.
Das mag Außenstehende verwundern beim Anblick des Reiseplans, der überwiegend Flugverbindungen und nur am Ende zwei Busstrecken und eine Zugfahrt enthält. Die Reiseplanerin erinnert sich jedoch, dass die Bamberger Symphoniker bereits in den Jahren vor der Pandemie mit dem Wunsch nach klimafreundlicheren Reisepraktiken an sie herangetreten seien. Ein Vorsatz, der Orchester dieser Größe aber vor eine schier schizophrene Herausforderung stellt, wie sich am Beispiel der Spanien-Tournee zeigen sollte.
Dann dröhnen die Flugzeugturbinen los. So laut, als wolle die Geräuschkulisse die Dissonanzen zwischen Vorbildfunktion in Zeiten des Klimanotstands und Branchenzwängen hörbar machen. Das Orchester hat an diesem Morgen in Barcelona wertvolle Zeit verloren. Eine Verzögerung, die auf das Konto der Nachhaltigkeitsbemühungen geht. Statt zweier separater Maschinen für die Musiker und die Fracht, hat die Orchesterleitung sich dafür entschieden, mit nur einem Flieger auf die Kanarischen Inseln weiterzureisen. Das kostet Zeit, denn die 36,5 Kubikmeter Instrumente und Equipment mit knapp vier Tonnen Gewicht müssen sorgsam verladen werden. Das sind keine Koffer mit Urlaubskleidung, die über ein Rollband in den Laderaum rutschen.
Das Thema beginnt also schon mit dem eng getakteten Zeitplan auf so einer Konzertreise kompliziert zu werden: Hochkultur dieser Größenordnung wäre für die Veranstalter, die Orchester buchen, schlicht nicht rentabel umsetzbar, wenn vor jedem Konzert ein bis zwei Tage für eine längere Anreise mit Bus oder Bahn samt den anschließend nötigen Erholungsphasen eingeplant werden würden.
Partiturstudium statt Strandbesuch
Die romantisierte Vorstellung eines Orchesterreisenden von urlaubshaftem Herumkommen auf dem Globus, Sightseeing vor dem Konzert und munterer Abendgestaltung mit ein bisschen Musikmachen dazwischen hat wenig zu tun mit den täglichen Abläufen, die sich in Spanien zeigen. Da gibt es zwar einmal den kurzen Besuch am Strand, die Tage stehen aber insgesamt unter dem Motto: Partitur lesen statt Party-Tour-Spesen. Gedämpft dringen auf den Hotelfluren stets Etüden, Tonleitern und Versatzstücke des Programms vom bevorstehenden Abend durch die Türen und Wände. Immer wieder wird sich nach dem Abendessen früh verabschiedet; mit der Begründung, man wolle morgens vor dem Konzert noch üben. Dafür und für die erwartete Spitzenleistung auf der Bühne würden nach längeren Fahrten jedoch schlicht die Kraft und Konzentration fehlen, so der Tenor der Truppe.
In der Nacht vor dem Abflug aus Barcelona hatte das Orchester bereits seinen ersten Vorfall zu meistern gehabt. Um kurz nach Mitternacht klingelte das Handy von Annette Lux, die für ihre reisenden Orchesterkunden durchgehend erreichbar sein muss, sobald die Tournee beginnt. Etwas stimme mit der Zollliste der Frachtstücke nicht. Eine Kiste, die verschickt werden soll, sei nach dem Konzert nicht mit dem Lkw am Flughafen angekommen. Ein Problem, das den gesamten Weitertransport der Instrumente auf die Kanarischen Inseln zu gefährden droht, denn der Zoll ist streng.
Auch mit einem Weltklasseorchester. Stimmt die Anzahl der Frachtstücke nicht, gibt es keine Genehmigung. Nun werden auch die Orchesterwarte herausgeklingelt. Es ist mittlerweile tief in der Nacht, und noch weiß niemand, um welche Kiste mit welchem Inhalt es sich handelt. Nur, dass es bis acht Uhr morgens eine Lösung geben muss, weil sonst womöglich das nächste Konzert nicht stattfinden kann. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Bamberger Symphoniker.
Stolpersteine sind Alltag beim Reisen
Doch diese ersten beiden Stolpersteine bedeuten nicht etwa eine außergewöhnlich holprige Tournee, sondern Alltag beim Reisen mit einem 100-Personen-Orchesterapparat. Marcus Rudolf Axt, der Intendant der Bamberger Symphoniker, berechnet die Wahrscheinlichkeit für gewisse Vorfälle realistisch in "Mannstunden": "Wenn wir die Anzahl der Mitreisenden mit den Stunden multiplizieren, die diese Tournee dauert, kommen wir auf eine Lebensspanne von etwa 700 Tagen, die wir nun hier unterwegs sind. Natürlich stößt einem Menschen in einer derart langen Zeit immer wieder etwas zu."
Im Laufe der Reise sollten noch ein verstauchter Fingerknöchel, zwei Corona-Infektionen und ein Magen-Darm-Infekt hinzukommen. Alles kein Problem für das Orchestermanagement, das im Hintergrund gefühlt durchgehend am Telefonieren und Organisieren ist. In der Regel, ohne dass es die Musiker mitbekommen. Auch Martin Timphus, der seit mittlerweile 37 Jahren als Bratschist mit den Bamberger Symphonikern um die Welt reist, kann diesen Normalfall des Ausnahmezustands bestätigen: "Das ist ein Beruf, in dem es keine Routine gibt, nur wachsende Erfahrung."
Doch die Sache mit dem Zoll wird zunehmend kniffliger. Bis herausgefunden werden kann, dass es sich lediglich um eine Kleiderkiste handelt, die noch von einer alten Tournee auf der Checkliste steht, jedoch gar nicht erst von Bamberg mitgenommen wurde. Die Lösung ist so einfach wie gewieft und ganz nebenbei sogar noch vollkommen legal: Es wird einfach eine zusätzliche Kiste zum Zoll gebracht, die nun eben als diese nicht benötigte Kleiderkiste mitreisen muss.
Dennoch: In Zentraleuropa will das Orchester künftig ausschließlich mit Bus oder Bahn fahren. Doch existiert eine solche emissionsärmere Option bei weiteren Distanzen überhaupt, oder liegt dieses Unterfangen mit den Sachzwängen einer Branche quer, deren Logiken von außen nur schwer einsehbar sind? Wäre in einigen Jahren womöglich sogar eine Tournee-Reportage mit dem Titel "Hundert satteln um - ein Reiseorchester verzichtet aufs Fliegen" möglich? Nach den heutigen Bedingungen des Klassikbetriebs stößt man hier schnell an Grenzen, die sich nur schwer durch die einzelne Kulturinstitution mit den ambitioniertesten Klimaschutzzielen weiter verschieben lassen: Aus einer internationalen Tournee würde dann nur noch ein: "Tour? Ne!"
Auch wenn die Hochkultur teils wettbewerbsfern anmuten mag: Jedes Orchester ist angewiesen auf Veranstalter, die es anfragen und buchen. Solche Anfragen resultieren vor allem aus dem internationalen Ruf, den sich ein Orchester erspielt hat. Ein Ruf, der mühsam aufgebaut, gepflegt und sichtbar gemacht werden muss. Zuletzt hatten die Bamberger Symphoniker zweimal in Folge den International Classical Music Award (ICMA) erhalten, einen der renommiertesten Preise für Klassik-Aufnahmen. So etwas sei gut, erklärt Marcus Rudolf Axt, der Intendant des Orchesters, der im Flieger nach Teneriffa ein Buch über Klimaschutz und Volkswirtschaft liest.
Wie er haben auch andere Mitglieder des Orchesters ein entschiedenes Interesse daran, den Klassikapparat nachhaltiger umzubauen. Eine gewichtigere Währung als solche Preise aber sei noch immer, ob ein Klangkörper in der Carnegie Hall in New York auftritt oder nur in Hallen in Schweinfurt und Bayreuth. Für ein Orchester von Weltrang existiert nicht einfach die Entscheidung zwischen Flugphoniker oder Zugphoniker. Entsprechend darf man diese Kulturinstitutionen unter keinen Umständen mit den Maßstäben messen, die man an einzelne Reisende anlegt.
Orchester müssen die legendären Orte bespielen, um bestehen zu können. Sie müssen dort spielen, wo auch die Berliner Philharmoniker und andere große Namen auftreten. Nicht nur aus wirtschaftlichen Zwängen heraus, sondern auch als Teil ihres Kulturauftrags, der im Falle der Bamberger Symphoniker von einer besonderen Vergangenheit geprägt ist: Seit ihren Anfängen gelten sie als eines der reisefreudigsten Orchester Deutschlands, begleiteten als erste Musiker nach dem Zweiten Weltkrieg offizielle Staatsdelegationen ins Ausland, waren als erstes deutsches Orchester wieder zu Besuch in Frankreich.
Mehr als 7500 Konzerte in mehr als 500 Städten und 63 Ländern zählt ihre Reisehistorie. Längst hätte das Orchester aus dem beschaulichen Bamberg zum Mond fliegen können, so viel Wegstrecke hat die oberfränkische Klassik-Weltadresse mittlerweile auf dem Kilometerkonto. Darum sucht das Orchestermanagement nach echten Lösungswegen, die mehr als ein bisschen grüne PR im Saisonprogramm mit dem Motto "Schöpfung" sind.
Drei Tage später in einer abseitigen Gegend auf Gran Canaria zwischen hausgroßen Reklametafeln und in die Landschaft geworfenen Straßen. Jakub Hrůša, Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, macht sich - gefolgt von einigen Presse- und Medienvertretern aus Spanien und Deutschland - auf den Weg zu einem ausgetrockneten Flussbett auf. Auch der Intendant des Orchesters läuft auf dem Pfad. Sie beide wollen an diesem Tag Bäume pflanzen. Nicht nur ein Ablassbetrag beim Click auf die Flugbuchung für irgendein fragwürdiges Kompensationsprojekt auf einem unbekannten Fleckchen Erde, sondern dort, vor Ort im Zielland, wo genau diese Pflanzen nun gebraucht werden; für eine Renaturierungsprojekt, das von Botanikern begleitet und von Einheimischen durchgeführt wird. Eine echte Kompensationskomposition.
Die Bamberger Symphoniker haben den CO₂-Fußabdruck inklusive weiterer Schadstoffe ausgerechnet, der durch ihre Anreise mit dem Flugzeug entsteht. Durch die Pflanzung von kanarischen Palmen und wilden Olivenbäumen wollen sie diesen ökologischen Fußabdruck mit einem nachhaltigen Handabdruck ausgleichen. Die Orchesterleitung denkt Nachhaltigkeit als etwas Ganzheitliches, das sich auch aus den öffentlichen Auftritten, Positionierungen und Programmen des Orchesters ergeben soll: Nachhal(l)tigkeit also als ein Nachhall der Auftritte, die sie in die verschiedensten Regionen der Erde führen. Bei allem Schmutz, den so eine Reise macht, setzen sie zugleich auf den Vorbildeffekt und die Möglichkeit, eine neue Norm zu setzen. Annette Lux vom Orchesterreisebüro gesteht: "Es gibt auch Orchester, die sagen mir: Einfach so billig wie möglich! Auch wenn ich den Nachhaltigkeitsaspekt als Option ins Spiel bringe, wird das entschieden abgelehnt. Das ist aber eher die Ausnahme."
Die Bamberger Symphoniker dagegen wählen nur klimazertifizierte Hotels, lehnen bei der Planung die schnelle Option eines Charterflugs auf Wunsch der Musiker ab - das Orchester möchte, wo es geht, lieber Bus und Bahn nehmen - und sie suchen sich ihre Kompensationsprojekte vor Ort gewissenhaft aus: So wird etwa die Pflanzaktion auf Gran Canaria langfristig von der Umweltorganisation "Ben Magec-Ecologistas en Acción" betreut. Durch viele Freiwillige vor Ort, durch heimische Forsttechniker sowie Biologiestudierende und Botaniker, die mit der Universität Göttingen kooperieren. Man hat sich also Mühe gegeben, keine intransparente Kompensationsleistung mit einem unbeteiligten Click auf den Bezahlen-Button, sondern ein regionales Projekt mit Zukunftsaussicht und Expertise zu wählen.
Auf der Rückfahrt zum Hotel wird mit dem Dirigenten gescherzt: Ob er das gelbe T-Shirt, das ihm die Organisation zum Einpflanzen der Palmen geschenkt hat, heute Abend auf dem Podest nicht vielleicht statt seines Konzertanzugs tragen wolle. Sofort antwortet er: "Ja, ich werde es tragen. Unter meinem Sakko."
Spät am Abend dann hinter der Bühne. Der Jubelsturm nach der zweiten Zugabe des Abends ist soeben verebbt, die Musiker schälen sich aus ihren Fracks und Kleidern, als plötzlich laute Rufe gefolgt von Lachen durch die Gänge dringen. Da steht der Chefdirigent, sein Sakko aufgeknöpft, darunter ein leuchtend gelbes T-Shirt. Vielleicht gibt es sie ja wirklich, die Möglichkeit, dass Orchester mit ihrer Vorbildfunktion Signale mit Nachhall auf ihren Reisen in die Welt aussenden.