TV-Runde bei "Maybrit Illner":Die neue Normalität

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Virologe Christian Drosten kann in Sachen medialer Präsenz derzeit mit Markus Söder mithalten. (Foto: ZDF/Svea Pietschmann)

Bei Maybrit Illner zieht nach drei Wochen Krisen-Gesprächen ein neuer Talk-Alltag ein. Konflikte gibt es zwar immer noch, doch meist nur auf den zweiten Blick.

Nachtkritik von Quentin Lichtblau

Die Stille, leere Sitzreihen, Sicherheitsabstand zwischen den Talkshow-Studiogästen und Männerlocken, die langsam über die Ohren wachsen - nach mehr als drei Wochen hat sich auch das Auge des Fernsehzuschauers an die eigentlich besonderen Umstände gewöhnt. Viel eher schreckt man mittlerweile auf wenn sich beim versehentlichen Zappen in einen Spielfilm zwei Menschen auf weniger als zwei Meter annähern. Das Leben mit den Corona-Maßnahmen ist gewissermaßen für viele zur Normalität geworden, gerade weil Deutschland im internationalen Vergleich bisher glimpflich davongekommen ist.

Auch die Studio-Dynamik bei Maybrit Illner an diesem Donnerstagabend richtet sich nach dem Schema F des Corona-Talk: Die in der Ankündigung gestellte Frage "Konsequent gegen Corona - können wir schon lockerlassen?" hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eigentlich schon am Vortag mit "Nein, höchstens ein bisschen" beantwortet. In der Studio-Runde herrscht darüber die angemessene Einigkeit. Zugeschaltet ist auch Markus Söder, was seinem auf dem Studio-Bildschirm stets riesig erscheinenden Gesicht im Vergleich zu den anderen Gästen eine nicht ungeschickte Erhabenheit verpasst. Söder weiß sich dieser Tage zu inszenieren, saß er doch bei der eben erwähnten Pressekonferenz direkt neben der Kanzlerin - womit er zum politischen Gewinner des Tages gegenüber seinem Amtskollegen Armin Laschet avancierte.

Für den blieb dann nur die Live-Schalte im "heute-journal" übrig.

Ein Potenzial für Talkshow-Konfliktsetzung, das man eigentlich durchaus ausspielen könnte, für eine eigene Sendung zu unions-internen Quereleien ist es in der neuen Normalität dann aber doch noch etwas zu früh. Laschet ist nicht da, dafür aber FDP-Chef Christian Lindner, in dem man durchaus einen Gesinnungsgenossen im Hinblick auf eine noch zügigere Lockerung der Maßnahmen vermuten könnte. Außerdem zu Gast: Quarks-Moderator Ranga Yogeshwar, Spiegel-Autorin Christiane Hoffmann und schließlich, natürlich, Virologe Christian Drosten, der mit den Locken.

Um der Sendung wenigstens ein bisschen Überraschungs-Effekt abzuringen, hat ein kreativer Cutter im ersten Einspieler einen Diashow-Filter über die Bilder gelegt. Warum, das weiß niemand, auch nicht, warum im selben Einspieler zu den beschlossenen Lockerungen die ersten Akkorde von "Last Night I Dreamt That Somebody Loved Me" von The Smiths erklingen - vielleicht ist da jemand im Schnittraum einfach ein bisschen einsam gewesen.

Im Anschluss an diesen künstlerisch-emotionalen Exkurs fragt Illner Söder dann doch direkt indirekt nach der Sache mit Laschet: Söder hatte am Nachmittag auch für bayerische Bürger ein paar neue Lockerungen verkündet - so darf man im Freistaat mittlerweile nicht nur wieder Bücher auf Bänken lesen - sondern sogar einen Menschen zum Spazierengehen treffen, der nicht zum gleichen Haushalt gehört. Sei das ein Zeichen, dass auch Bayern nun wieder nach mehr Einheitlichkeit im föderalen, mitunter auch zerstrittenen Durcheinander strebt, will Illner wissen.

Söder verneint, es habe ja nie wirklich Streit zwischen den Bundesländern gegeben, eher ein Abwägen mit unterschiedlichen Ergebnissen - und in seinem Bayern, das zwar durch die Nähe zu Österreich besonders gefährdet war, aber eben auch ganz, ganz, ganz vorbildlich und -sichtig gehandelt habe, wiesen die Kennzahlen nun eben auch auf mögliche Lockerungen hin. Die Bürger hätten sich jedenfalls ganz "großartig" verhalten, Horror-Szenarien wie in anderen Ländern habe es hier deshalb nicht gegeben, und man weiß nicht, ob "hier" nun Bayern oder Gesamt-Deutschland ist. Es klingt jedenfalls eher so, als sähe sich Söder mittlerweile als Teil einer Regierungs-Doppelspitze mit Merkel.

Spiegel-Autorin Hoffmann nimmt Söder seine fehlende Lust am Konflikt nicht ganz ab, sie spricht von einem "Profilierungskampf" in der Union und sieht eine "erkennbare Konkurrenz" zwischen Söder und Laschet. Dieses Ringen zwischen den Ministerpräsidenten habe zu eigenartigen Beschlüssen geführt, wie etwa der leicht willkürlichen Zahl von 800 Quadratmetern, die ein Geschäft laut der neuen Regelungen höchstens haben darf, um die Ladentüren wieder zu öffnen. Söder gibt zu, dass es sich um einen Kompromomiss zwischen den Bundesländern gehandelt habe, Merkel und ihm (da ist sie, die Doppelspitze in spe) wären weniger Quadratmeter lieber gewesen. Auch eine Maskenpflicht wäre ihm ganz Recht gewesen, er hält - wie bereits bei der Pressekonferenz am Nachmittag - eine Maske mit dem Muster der bayerischen Flagge in die Kamera. Auch hier hätten einige Bundesländer nicht mitgespielt, sagt Söder, nennt nun das Kind beim Namen: Nordrhein-Westfalen. Laschet-Land.

Christian Drosten bescheinigt der Kanzlerin unterdessen grozügig, dass sie bei der Pressekonferenz die Problematik mit der Reproduktionszahl "natürlich" ganz richtig erklärt habe. Er weist aber auch darauf hin, dass sich das Virus künftig trotz aller positiver Entwicklungen weiterverbreite, über die derzeitigen Hotspots hinaus und hinein in die älteren Schichten der Bevölkerung, weswegen die bisher "beneidenswert niedrige Sterblichkeit" in Deutschland möglicherweise ebenfalls bald in eine neues Stadium treten könnte. Ganz genau wisse man das alles aber noch nicht, schränkt Drosten wie immer ein. Und mal wieder ist es genau diese Un-Absolutheit, die Drosten in die Runde bringt, die selbst die sonst stets unparteiische Illner dazu bewegt, zu gestehen, dass es ja "so schön" sei, ihm zuzuhören.

Am Ende verrennt sich Söder dann doch

Yogeshwar und Lindner sind an diesem Abend zum Werben für intelligente - pardon - smarte Digital-Lösungansätze gekommen. Yogeshwar erzählt von einem Prototypen des Max-Planck-Instituts, den er bereits auf seinem Smartphone habe, das er dann auch umgehend auspackt, um es dann ungenutzt wieder einzustecken. Er plädiert zudem für einen etwas flexibleren Umgang mit Bürgerrechten. Wenn man die im Zuge der Ausgangsbeschränkungen schon so hart einschränken könne, warum sei man dann in anderen Bereichen wie etwa im Datenschutz so vorsichtig? Diesen Weg wollen Söder und Lindner nicht mitgehen, die Apps, die ihnen vorschweben, seien mit den Grundrechten vollständig vereinbar.

Auf der Zielgerade der Sendezeit kommt noch ein Thema auf den Tisch, in dem die Vereinbarkeiten noch sehr ungeklärt sind: Die Schulen und Kindertagesstätten. Auch hier will Nordrhein-Westfalen (und damit Armin Laschet) schneller vorangehen - und schon am Montag die Schulen öffnen. Söder sieht natürlich wieder sein Bayern als das bessere Vorbild, hier erarbeite man gemeinsam mit den Lehrerverbänden Lösungen wie etwa eine reduzierte Stunden- und Fächerzahl oder einen Unterricht, der nur in größeren Räumen und unter Einhaltung sämticher Hygiene-Regeln stattfinden.

Illner wirft nun ein, dass es in den meisten Schulen keine anständigen Toiletten und weder Seifen noch Handtücher gäbe. "In Bayern schon!", sagt Söder - und spätestens hier dürfte der Medienprofi des Corona-Zeitalters sich dann doch mal verrannt haben.

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