Vernachlässigte Tochter:"Ich weiß nicht, ob ich überlebt hätte, wenn sie aufgewacht wäre"

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Einmal war unsere Mutter mehrere Tage weg. Uns Kindern stellte sie ein Krug Wasser mitten in die Küche, damit wir nicht verdursten (Foto: Illustration Jessy Asmus für SZ.de)

Die Mutter ließ ihre Kinder tagelang allein und völlig verwahrlosen. Mit zwölf packte Julia ihren Kinderrucksack und ging.

Protokoll: Lars Langenau

"Ich bin 1984 geboren. Meine Mutter war 18, als sie meine Schwester bekam. Ich kam ein Jahr später, gezeugt von einem anderen Mann. Später sagte meine Mutter, beide Schwangerschaften seien ungeplant gewesen. Als wir klein waren, wohnten wir zu dritt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in München. Meine Mutter war zwar auf dem Gymnasium, hatte aber kein Abitur, später keine Arbeit und deshalb auch nie Geld. Manchmal war das große Zimmer unserer Wohnung an englische Gaststudenten vermietet, die darin mit bis zu sechs Leuten hausten. Dann waren wir zu dritt in dem kleinen Zimmer.

Oft war sie überfordert mit uns. Meine Schwester ist taub, das machte es nicht einfacher. Manchmal rief sie unsere Väter an, dass sie uns abholen sollen. Irgendwann in meiner frühen Kindheit wurde mein Vater für meine Mutter jedoch zum Bösen in Person. Sie untersagte ihm jeden Kontakt zu mir. Er versuchte zu mir Kontakt zu halten, auch über Gerichte. Aber als nichtehelicher Vater hatte er damals keine Chance.

Immer wieder gab unsere Mutter uns vorübergehend in Kinderheime. Ich weiß noch, dass ich mich im Heim nicht wohlfühlte. Man hat mich gepflegt, gefüttert, aber das war es dann auch. Mit dem Herzen war da niemand dabei. Immer wollte ich wieder zurück zu meiner Mutter, aber das ist wohl normal.

Obwohl sie schon zwei Kinder hatte, war sie als junge Mutter ein Hippie, der versuchte, seine Jugend nachzuholen. Oft war sie weg, auch nachts. Selbst als wir noch Babys waren. Wir wussten nicht, wo sie war. Ich habe daran keine Erinnerungen mehr, aber es gibt Zeugenaussagen von Nachbarn, dass die unsere Schreie hörten, weil sich niemand um uns kümmerte.

Ein Krug Wasser für drei Tage

Einmal war sie mehrere Tage lang weg. Uns Kindern stellte sie ein Krug Wasser mitten in die Küche, damit wir nicht verdursten. Wir waren da Kleinkinder. Natürlich haben wir irgendwann angefangen zu schreien und zu brüllen. Die Nachbarn holten die Polizei. Laut Zeugenaussagen und Arztbericht lebten wir unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Es schien, als hätte man uns tagelang nicht gewickelt, doch letztendlich weiß man nicht, wie lange wir komplett allein gelassen wurden. Als meine Mutter wiederkam, wunderte sie sich, dass ihre Kinder nicht mehr da waren. Ich glaube heute, ihr war nicht klar, was für einer Gefahr sie uns da ausgesetzt hat.

Wir kamen dann erst mal in ein Heim und blieben dort ein halbes Jahr. Dann kamen wir wieder zurück. Warum? Das ist mir bis heute unverständlich. Sie konsumierte Drogen, Tabletten lagen bei uns in der Wohnung überall herum. Auch habe ich Erinnerungen an viele verschiedene Männer, mit denen meine Mutter vor unseren Augen Sex hatte. Wir standen vor dem Bett und schauten dem Treiben zu. Eigentlich wünschte sie sich eine Partnerschaft, doch kein Mann blieb länger als zwei, drei Wochen. Dann fiel sie in ein schwarzes Loch, wurde aggressiv, weil sie den Frust, den sie in sich trug, nicht mehr bei sich behalten konnte.

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Von Lars Langenau

Die Familie und Menschen in der näheren Umgebung machten immer mehr Druck und versuchten, ein besseres Umfeld für uns Kinder zu schaffen, sodass sich unsere Mutter bedroht fühlte. Daraufhin brach meine Mutter den Kontakt zu ihrer Familie komplett ab und floh mit uns von München nach Hamburg. Da war ich acht Jahre alt.

Meine Mutter litt unter Verfolgungswahn, sie kapselte sich komplett ab, verschanzte sich in einer perfekten Welt, die sie sich ausgemalt hatte und empfand sich dabei noch als elitär. Auf unserem Anrufbeantworter war folgender Satz: 'Hallo! Hier sprechen die Hochbegabten - und nur Hochbegabte dürfen hier drauf sprechen.' Mir vermittelte sie, dass ich die Schönste und Beste sei. Alle anderen hingegen seien hässlich und schlecht. Natürlich habe ich mich lange auch so entwickelt. Sie schleppte mich zu Castings, wo ich modeln, schauspielern und sonst was sollte. Hatte ich mal einen Auftrag als Kindermodel, wurde ich durchs Nichtbestrafen belohnt.

Zwar war ich gekämmt, aber Körperhygiene brachte uns unsere Mutter nicht bei. Dieses Ritual, sich morgens zu waschen, das gab es bei uns nicht. Vielleicht habe ich mir zweimal die Zähne geputzt als Kind. Dass ich überhaupt noch gesunde Zähne habe, ist ein Wunder.

Meine Mutter war seelisch krank. Sie saß ganze Tage nackt in der Wohnung und starrte die Decke an. Dabei bildete sie sich ein, ein perfektes Leben zu führen. Mit mir als perfekte Tochter. Doch tatsächlich herrschte das totale Chaos bei uns zu Hause. Meine Mutter wahrte nach außen den perfekten Schein, niemand merkte, wie es bei uns daheim aussah.

Meine Schwester litt noch mehr, weil sie oft nicht verstand, was unsere Mutter von ihr wollte. Allerdings konnte sie gut von den Lippen lesen und auch gut sprechen. Sie sagte immer, dass sie weg wollte.

Das hier ist keine Anklage. Meine Mutter war krank, doch sie verstand sich selbst als Heilige. Andere Meinungen konnte sie nicht akzeptieren. Menschen mit anderen Ansichten waren grundsätzlich böse. Für sich selbst suchte sie nie Hilfe. Trotzdem glaube ich, dass sie uns auf eine sehr extreme Weise sehr geliebt hat.

Obwohl sich meine Mutter kaum etwas leisten konnte, sah sie, wenn sie denn mal nach draußen ging, akkurat aus. Auch ich war ordentlich gekleidet, obwohl ich mit zwölf nur eine Hose und ein T-Shirt besaß. Ich war das Püppchen. Wir lebten auf unserem eigenen Müllberg und Dreck. Vielleicht fiel es nicht auf, dass ich das anhatte, weil meine Mutter darauf bestand, dass ich eineinhalb Stunden zu einem Hamburger Elitegymnasium fuhr. Und meine Mitschüler dort wussten, dass ich aus einem sozialen Brennpunkt kam.

Ein Spagat, den ich nicht mehr aushalten konnte

Mit zwölf wurde mir klar, dass ich das nicht mehr ertragen konnte. Diesen Spagat zwischen Püppchen sein und dem, was ich zu Hause erlebte, konnte ich nicht mehr aushalten. Als ich in die Pubertät kam, entwickelte ich eine eigene Meinung und widersprach ihr. Für meine Mutter war das fatal. Plötzlich wurde ich für sie zum Feindbild. Dann wollte sie mit mir reden und ich musste mir mehrstündige Monologe von ihr anhören. Erst, als ich andere Kinder besuchte, begriff ich, dass mein Zuhause nicht normal war.

Als ich mich in einen Nachbarsjungen verguckte, warnte sie mich: Das sei ein künftiger Zuhälter, sie wisse das ganz genau, ich dürfe den nicht mehr treffen. Als ich mich darüber hinwegsetzte, sperrte sie mich in meinem Zimmer ein. Wieder bekam ich nur einen Wasserkrug ins Zimmer und trockenes Brot. Sie drohte: Hier wirst du bleiben, bist du 14 Jahre alt bist. Sie war aggressiv. Wenn ich zum Beispiel einkaufen ging und etwas Falsches mitbrachte, konnte sie extrem gewalttätig werden.

Eine Zeitlang war ich komplett eingeschlossen, die Haustür war von innen abgeschlossen. Dann wurde ihr irgendwie klar, dass das bei einem Feuer gefährlich werden könnte. Sie entschied sich, Zimmer- und Haustür nicht abzuschließen, wenn ich schlief. Diese Gelegenheit nutze ich: Mit zwölf Jahren ging ich eines Nachts von zu Hause weg.

Meine Mutter hatte mir wieder einen ihrer stundenlangen Monologe gehalten, warum ich wieder in mein Zimmer eingesperrt werden sollte und ich das einsehen müsse. Ich wehrte mich, ich widersprach. Da war mir klar, dass ich gehen musste. Vielleicht war es auch der Überlebensinstinkt, der mich trieb.

Ich stellte mir den Wecker auf ein Uhr nachts, packte meinen Kinderrucksack, ging zu meiner Schwester ans Bett und sagte zu ihr: Wir gehen jetzt. Bis heute weiß ich nicht, warum sie meine Aufforderung ablehnte. Wahrscheinlich hatte sie Angst. Vielleicht befürchtete sie, dass ich es nicht ernst meinte. Jedenfalls ist sie nicht mitgegangen. Mir blieb keine Zeit zu verhandeln, sondern nur noch mein Wille. Der mich nach draußen trieb. Es war Winter und ich hatte nur meinen Rucksack bei mir, gefüllt mit belanglosen Dingen, die aber mein ganzer Besitz waren: Mein Walkman, mein Kuscheltier, ein kleiner schwarzer Hund, den ich Bela B getauft hatte.

Ich weiß nicht, ob ich überlebt hätte, wenn sie aufgewacht wäre. Ein einziges Mal in meinem Leben klaute ich etwas: 20 Mark von meiner Mutter, die ich ihr später wiedergab. Aber das Geld war nötig für meine ersten Schritte in mein neues Leben. So stampfte ich dann durch den Schnee, kaufte mir eine Telefonkarte, ging in eine Telefonzelle, blätterte im Telefonbuch und rief den Kinder- und Jugendnotdienst an. Alles passierte spontan. Bis dahin wusste ich gar nicht, dass es so einen Dienst überhaupt gibt. Noch am frühen Morgen verständigten sie meine Mutter, die umgehend kam und versuchte, mich am Arm und an den Haaren aus dem Haus zu ziehen.

Zum Glück wurde das verhindert. Ich musste dann Vertretern vom Jugendamt meine Geschichte erzählen. Vielfach. Immer wieder drohte mir meine Mutter, dass mir schlimme Dinge passieren würden, wenn sie das Sorgerecht verlieren würde. Gottseidank haben das die Mitarbeiter des Jugendamtes mitbekommen und mich ihr entzogen. Sie hatte zwar noch das Sorgerecht, durfte aber nicht mehr darüber entscheiden, wo ich lebe. Ich war voller Angst, dass ich zurück müsste. Meine Mutter soll gesagt haben, dass sie mich lieber tot sehen würde, als dass sie mich woanders hingibt.

Ein Gutachter bescheinigte ihr eine extreme Persönlichkeitsstörung

Ich musste vor Gericht aussagen und war zwei Jahre lang einmal pro Woche bei einem Gutachter. Er bescheinigte meiner Mutter eine extreme Persönlichkeitsstörung und entschied letztendlich, dass ich nicht mehr zurück musste. Da ihr der Entzug des Sorgerechts auch bei ihrer zweiten Tochter drohte, verschwand meine Mutter spurlos. Später erfuhr ich, dass sie in Rotterdam untergetaucht war. Bis heute. Erst seit kurzer Zeit habe ich wieder Kontakt zu ihr, der aber wieder desaströs war.

Ich jedenfalls kam damals zunächst in eine Art Auffangstation, in der nur kaputte Kinder und Jugendliche waren, die aus den krassesten Familienkonstellationen kamen. Alle Bewohner im Alter von 12, 13, 14 nahmen da Drogen. Im Anschluss war ich zwei Jahre in Hamburg im betreuten Wohnen untergebracht, mit 14 zog ich zu meinem Vater nach München. Mit 18 bin ich da wieder ausgezogen.

Schulisch fiel ich natürlich während dieser Zeit dramatisch ab, musste später erst meinen qualifizierten Hauptschulabschluss machen, holte als ausgebildete Kinderpflegerin meine Mittlere Reife nach und schließlich das Abitur. Heute bin ich Lehrerin an einer Mittelschule und unterrichte Deutsch für Flüchtlingskinder.

Wem kann ich die Schuld für mein Schicksal geben? Selbst meinen Großeltern kann ich keine Schuld geben, weil sich meine Mutter durch den Umzug nach Hamburg ihnen völlig entzog. Schuld haben, wenn überhaupt, die Nachbarn, die unsere Schreie hörten und nicht reagierten. Man muss doch hinschauen und zuhören. Als kürzlich einer meiner Nachbarn seine Frau schlug, habe ich die Polizei angerufen. So was gehört einfach zu den Pflichten der Mitmenschlichkeit. Allerdings habe ich den Eindruck, dass bei den Behörden erst etwas passiert, wenn jemand schon halb tot ist.

Schuld hat sicher das Jugendamt, das nicht reagierte, als wir laut ihrer eigenen Berichte bei minus zehn Grad ohne Jacke und Strümpfe durch die Gegend kutschiert wurden - und nach einem halben Jahr im Heim wieder zurückgeschickt wurden. Heute frage ich mich, warum damals niemand eingeschritten ist, warum uns niemand von dieser Mutter entfernte, die doch offensichtlich keine Kinder erziehen konnte.

Zudem war meine Mutter stark suizidgefährdet. Vielleicht war das nur ein Druckmittel, damit zumindest meine Schwester bei ihr blieb. Doch mir zeigte sie immer wieder verschlossene Briefe, die ich 'dem Opa geben' sollte, wenn sie nicht mehr sei. Ich würde behaupten, dass meine Mutter heute alle diese Dinge bestreiten würde, schlicht, weil sie es nicht mehr weiß. Ich war für sie eine Lügnerin, die größte Lügnerin der Welt. Deshalb würde sie sich auch nie entschuldigen.

Noch heute spüre ich die Angst

Noch immer spüre ich starke Ängste. Früher waren das reale Todesängste, heute sind es Erinnerungsfetzen daran, wie ich allein gelassen wurde, daran, wie sich niemand um mich kümmerte, mir das Essen verweigert wurde, mich niemand wusch, wie ich verwahrloste. Erinnerungen an die Angst, dass ich nicht mehr existieren kann, weil meine Mutter nicht mehr da ist für mich. Es ist ein Gefühl, völlig alleingelassen zu werden.

Eine Psychotherapie habe ich bis heute nicht gemacht. Viele Jahre meiner Kindheit habe ich verdrängt, ich weiß aber, dass ich vieles verarbeiten muss. Aber wer von uns ist schon normal? Der Antrieb wegzugehen, war, dass ich nie so werden wollte wie meine Mutter. Überleben hieß für mich: Ich muss hier raus, damit ich ein erfülltes Leben führen kann. Vielleicht wäre ich sonst längst an einer Überdosis Heroin gestorben.

Ich habe heute selbst einen vierjährigen Sohn und erwarte gerade mein zweites Kind. Ich habe mir geschworen, dass ich meine Kinder niemals schlagen werde, da ich weiß, was das auslöst. Für mich ist Gewalt keine Lösung. Ich habe mir geschworen, dass ich mein Leben auf die Reihe bekomme. Wenn ich nicht auch das Gegenteil solcher Geschichten kennen würde, würde ich sagen, je schlechter es einem in der Kindheit geht, umso stärker wird man später. Meine Mutter hat mich gelehrt, im Fallen fliegen zu lernen. Mag sein, dass nicht jeder so stark ist wie ich. Andere zerbrechen an solchen Dingen. Aber ich lasse es nur ungern gelten, wenn jemand seine schwere Kindheit als Ausrede für alles benutzt und sich dahinter versteckt."

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Julia S., 32, lebt in München.

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