Favoriten der Woche:Worte wie Hexerei

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Die Basilika St. Peter und Paul in Rom. (Foto: Bastien Roux/Imago/PanoramiC)

"Die Stadt der Lebenden" ist ein True-Crime-Krimi und zugleich ein Porträt der ewigen Unruhe Roms: Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Fritz Göttler, Jörg Häntzschel, Helmut Mauró, Jens-Christian Rabe und Wolfgang Schreiber

Krimi: "Die Stadt der Lebenden"

Ein paar Tage und Nächte, vollgestopft mit Wodka und Kokain, Sex und Travestie, und dann, am Freitag, dem 4. März 2016, geschieht der Mord: Zwei Jungs aus gutbürgerlichem Haus töten einen jungen Stricher, offenbar grundlos, mit Messer und Hammer. Eine unfassbare Tat, Italien ist geschockt. Nicola Lagioia erzählt in "Die Stadt der Lebenden" (deutsch von Verena von Koskull) von diesem True-Crime-Fall - den Familien der Täter, den Ermittlungen, den Reaktionen der Presse. Ein Krimi von verstörender Konsequenz, um Identität, soziale und sexuelle, und die Geschichte einer journalistischen Recherche, die sich manchmal ins Banale flüchten muss: Was ist das nun, das Böse? Und, in der Tradition Pasolinis, ein unglaublich dichtes Porträt der ewig unruhigen Stadt Rom, von den Ratten des Kolosseums bis zu Michelangelos Moses und Dalidas "Ciao amore, ciao". Worte sind vieldeutig, flüchtig, "Cousinen der Hexerei", heißt es mal, "sie hallen anders wider, wenn sie auf unterschiedliche Materialien stoßen". Fritz Göttler

Journalismus: Die Kriegsberichte des ISW

Das Logo des Institute for the Study of War (ISW). (Foto: ISW)

Ein Disclaimer vorweg: Es gibt sympathischere Einrichtungen als das Institute for the Study of War. Gegründet wurde der Washingtoner Thinktank von Kimberly Kagan, einer Militärhistorikerin aus dem Neocon-Milieu, unterstützt wird er unter anderem von amerikanischen Rüstungsfirmen. Dennoch gibt es kaum eine einflussreichere Quelle für Nachrichten zum Fortgang des Kriegs in der Ukraine als das vom ISW täglich veröffentlichte "Russian Offensive Campaign Assessment". Mit unermüdlicher Genauigkeit schildern die Autoren den Fortgang der Kämpfe und die Intrigen in der russischen Armeeführung. Minutiös kolportieren sie die Kritik Russlands einflussreicher und mit dem Kriegsverlauf stets unzufriedener "Milblogger" auf Telegram.

Man kann nicht behaupten, die ISW-Autoren seien unparteiisch. Ein Kalter-Krieg-Vibe weht durch die oft staubtrockenen Zeilen. Doch die Berichterstatter wissen genau, dass es die Nüchternheit und Präzision in der Darstellung ist, die ihre Berichte so wertvoll machen. Sie unterliegen nicht der üblichen journalistischen Aufmerksamkeitsökonomie. Eher ähneln sie militärischen Lageberichten, daher auch der technokratische Duktus. Die breite Öffentlichkeit wird der grauenvollen Dauerthemen dieses Kriegs irgendwann müde und wendet sich anderen zu. Nicht so die Autoren des ISW. Da täglich ukrainische Kinder nach Russland verschleppt werden, vermerken sie das auch täglich, auch wenn die Formulierungen immer dieselben bleiben. Und wenn außer "limited engagement" an diesem oder jenem Frontabschnitt wieder nichts passiert, dann schreiben sie das eben so auf, Tag für Tag.

Statt ungeduldig nach der großen Erzählung zu suchen, wo vielleicht einfach keine ist - "die Gegenoffensive beginnt jetzt wirklich", "die Gegenoffensive bricht zusammen" -, vermessen die Experten des ISW täglich stoisch den Frontverlauf, buchstäblich Meter für Meter. Sie verknüpfen dazu Fotos aus den sozialen Medien samt ihrer Geodaten, Medienberichte und was sie sonst an Quellen anzapfen können. Geheimdienstinformationen erhält das ISW nach eigenen Angaben nicht. Es stützt sich allein auf die enorme Expertise seiner Mitarbeiter. Auf deren Bereitschaft, den Blick vom grauenvollen Kriegsgeschehen nicht abzuwenden. Jörg Häntzschel

Klassik: Hermann Scherchens Mahler-Symphonien

Detailverliebte Klangbildung: Der Dirigent Hermann Scherchen. (Foto: Werner Neumeister/imago)

Die Legende, erst Leonard Bernstein habe die Wiener Philharmoniker genötigt sich mit den Symphonien Gustav Mahlers anzufreunden, ist kaum haltbar, wenn man sich die Aufnahmen mit dem Dirigenten Hermann Scherchen aus den 1950er-Jahren anhört (Urania). Sicherlich veranstaltet Scherchen weit weniger effektives Rampentheater, aber seine Detailverliebtheit in Architektur und Klangbildung führt Mahlers Symphonik ebenso selbstverständlich wie plastisch großräumig vor. Auch die in heutigen Aufführungen oft vernachlässigte wirkliche Mehrstimmigkeit, die gleichberechtigte Gleichzeitigkeit der Stimmen, gewinnt bei Scherchen einzigartiges Profil. Auf den soliden warmen Streicherkorpus kann man sich verlassen, aber diesmal hören und denken auch die Bläser mit. Ein erstaunliches Dokument. Helmut Mauró

Pop: Album "No. 2" von Erobique

(Foto: Hanseplatte)

Unter den viel zu unbekannten deutschen Indie-Pop-Helden ist der Hamburger Pianist, Keyboarder, Songwriter und Produzent Carsten Meyer alias Erobique der ewige Disco-Traumtänzer. Von ihm bekommt noch das kläglichste Stottern und Stolpern einen Hüftschwung verpasst. Aber nicht so einen angestrengten, angeberischen, deutschen, eher einen ganz easy angetäuschten, einen kleinen Dreh, auf dass alles nicht mehr ganz so schwer fällt. Wobei das Geheimnis nicht die Ironie ist, sondern die Wärme. Der finale Geniestreich auf seinem neuen Album "No. 2" (Hanseplatte) ist übrigens der Song zur Zeile "Wir hab'n alles verkackt / wir hab'n alles in den Sand gesetzt". Sollte dereinst die Welt doch noch gerettet werden, muss das der Opener des Soundtracks sein. Jens-Christian Rabe

Konzert: Fliessen-Festival

Für Zuhörer, "denen Dresscodes und ungeschriebene Verhaltensregeln eines klassischen Konzertes suspekt sind": das Fliessen-Festival im südlichen Brandenburg. (Foto: Kammermusikfestival Fliessen)

Marie-Elisabeth Hecker und Martin Helmchen, die Violoncellistin und der Pianist, gehören zu den gefragten, international agierenden Solisten der Klassikmusik: Chicago, London, Oslo oder Tokio - sie bleiben stets nah bei sich selbst. Von Berlin ist das Paar mit seinen vier Kindern aufs Land gezogen, ins südliche Brandenburg, an den Spreewald mit seinen Flüssen, Bächen, Rinnsalen. "Fliessen" nennen sie also ihr Festival.

Der Ort Bornsdorf ist eine Ansammlung von Häusern zwischen Wiesen und Feldern. Zur alten "Drauschemühle", ihrem Haus mit weitem Garten, gehört eine Scheune, die zum Konzertsaal wird, wenn Hecker und Helmchen dort mit Freunden musizieren. Für Zuhörer, sagen sie, "denen Dresscodes und ungeschriebene Verhaltensregeln eines klassischen Konzertes suspekt sind". Zum Idealismus kam das Glück hinzu, das Festival organisatorisch in die "Brandenburgischen Sommerkonzerte" integrieren zu können. Benachbarte Ortschaften werden für das Fliessen-Festival zu Spielstätten, Kirchen in Luckau und Lübben, das Schloss Lübbenau. In Finsterwalde hat bürgerschaftliches Engagement aus der alten Weberei einen perfekten Konzertsaal entstehen lassen. Das Marathonkonzert dort: Martin Helmchen und Christian Tetzlaff tauchen Beethovens Violinsonate c-Moll in zerrissene Emotionen. Helmchen, Hecker und der Geiger Stephen Waarts lassen im C-Dur-Klaviertrio von Brahms die sprödeste Kunstübung noch glänzen. Mendelssohn Bartholdys geniales Oktett für Streicher versammelt den halben Freundeskreis auf dem Podium.

Musik bedeutet, Fließen als Kunstübung zu begreifen - hier in der familiären Atmosphäre, in wechselnden Besetzungen der fünfzehn hochkarätigen Instrumentalisten. Sie können ihre Musik, auch von Komponisten der Moderne, bei Publikumsgesprächen sogar anschaulich erklären. In der überfüllten Konzertscheune gibt es Robert Schumanns drei Romanzen und sein Klavierquintett, diesmal mit Michail Lifits am Piano, danach das Fest zahlloser Zugaben der schönsten und seltensten Art, etwa Paganinis fünfte Geigen-Caprice als teuflische Absurdität - für Flöte und Fagott. Wolfgang Schreiber

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