Musikverkäufe:2016 zeigt: Das Pop-Album lebt - und wie

Musikverkäufe: Die großen Popstars trauen sich wieder was: Kendrick Lamar, Beyoncé und Kanye West (v.l.n.r.).

Die großen Popstars trauen sich wieder was: Kendrick Lamar, Beyoncé und Kanye West (v.l.n.r.).

(Foto: AP/Reuters)

Niemals zuvor kauften Menschen weniger Alben als in diesem Jahr. Dabei sind die Pop-Platten bislang so spannend wie seit Jahrzehnten nicht.

Von Julian Dörr

Aua: 2016 ist das bislang schlechteste Jahr für Musikverkäufe seit Beginn der Aufzeichnungen, hat der Branchendienst Nielsen letztens ausgerechnet. Die Zahl der verkauften Einheiten sank im im Vergleich zum Vorjahr noch mal deutlich, jetzt sind es nur noch knapp mehr als 100 Millionen. Darunter fallen nicht nur CDs, sondern auch digitale Downloads. Ob physisch oder virtuell: Die Leute kaufen so wenig Alben wie nie zuvor. Stattdessen streamen sie - und verpassen das Album als popkulturelle Kunstform.

Dabei ist gerade 2016 bislang eins der spannendsten Jahre, das die Pop-Musik seit langer Zeit erleben durfte. Ein Jahr voller gesellschaftlich relevanter und unbedingt fordernder Kunst, die sich Erwartungshaltungen verweigert und den Pop ein paar Jahre in die Zukunft geschubst hat. Große Kunst, die eben besonders im Albumformat funktioniert.

Da ist David Bowie, der im Januar mit "Blackstar" sein 25. Studioalbum veröffentlichte. Nur zwei Tage bevor er im Alter von 69 Jahren seinem Krebsleiden erlag. Eine Krankheit, die er lange und in Stille ertrug, um daraus schließlich eine letzte große Inszenierung zu machen. "Look up here, I'm in heaven", heißt es im Song "Lazarus". Den eigenen Tod - das Ende der eigenen Biographie - so eng mit einem Album zu verweben und dabei gleichzeitig aktuelle Einflüsse so zeitgeistig-frisch zu reflektieren, das hat vor Bowie noch keiner gewagt. Und keiner geschafft. Wenn schon gehen, dann mit einem letzten, gefeierten Trick. "Blackstar" ist die Inszenierung der Unsterblichkeit im ewig vergänglichen Pop.

Im Februar veröffentlichte Kanye West "The Life of Pablo". Wobei "veröffentlichte" nicht ganz richtig ist. Kanye West beschallte von seinem Laptop aus den Madison Square Garden mit einem neuen Album, an dem er dann einfach immer weiterarbeitete. Zwar gibt es "The Life of Pablo" mittlerweile bei den gängigen Streamingdiensten zu hören, abgeschlossen ist das Werk aber keineswegs. Denn Kanye forscht an der Zukunft der Musik. Er spielt mit dem räumlich und zeitlich begrenzten Format des Albums. Er fügt hier eine Textzeile hinzu, streicht da eine Gesangspassage. Oder fügt gleich einen gänzlich neuen Song hinzu.

Das ist anstrengend, kompliziert und überfordert zuweilen den Gelegenheitshörer. Aber es zeigt auch: Die großen Popstars unserer Zeit trauen sich wieder was. Im Januar veröffentlichte Rihanna "Anti", im April erschien Drakes "Views". Und auch wenn diese Alben nicht mit dem Innovationsgeist von Bowie oder West mithalten können, machen sie deutlich: Die Zeiten von drei heißen Singleauskopplungen und Radioairplay sind für die wirklich interessanten Künstler vorbei. Weder "Anti" noch "Views" schlagen den einfachen, den kommerziellen Weg ein. Sie sind schwer, düster und fordern den Fast-Food-Hörer heraus. Und das in einer Zeit, in der sich alle über verkümmerte Aufmerksamkeitsspannen auslassen.

Die Pop-Musik ist wieder verdammt dicht dran an ihrer Zeit. Im Mai erinnerten Radiohead daran, dass das Konzept "selbstreflektierte Rockband" noch nicht gänzlich überflüssig geworden ist. "A Moon Shaped Pool" ist eine einstündige Gelassenheitsmeditation gegen tieffliegende Panikattacken in einer von Angstneurosen zerfressenen Welt.

2016 ist das Jahr, in dem Alben wieder Statements wurden. Im März veröffentlichte Kendrick Lamar "Untitled Unmastered". Zwar handelt es sich bei diesen acht Songs um überschüssiges Material aus der Produktion seines Großwerks "To Pimp A Butterfly" aus dem vergangenen Jahr. "Untitled Unmastered" ist aber dennoch ein hochrelevanter Beitrag zur gesellschaftspolitischen Lage in den USA. Eine schwarze Stimme erzählt schwarze Geschichte - und schlägt den Bogen zu den Problemen der Gegenwart. Den Vergessenen eine Stimme geben, das schafft auch Beyoncés "Lemonade". Begleitet wurde dessen Veröffentlichung von einem einstündigen Film, ein visual album, in dem Beyoncé die Selbstermächtigung der afroamerikanischen Frau inszeniert. "Lemonade" - weit mehr als eine Sammlung von Songs und Musikvideos.

Das Album als Kunstform ist 2016 also nicht nur sehr lebendig, sondern so experimentierfreudig und relevant wie seit Jahren nicht mehr. Und wen die wirklich außergewöhnlich gute Musik dieses Jahrgangs nicht überzeugt, dem hilft vielleicht eine kleine historische Horizontöffnung. Mit Alben verhält es sich nämlich wie mit allen Dingen im Leben. Sie verändern sich. Als vor drei Jahrzehnten die CD eingeführt wurde, erklärten die Fortschrittsskeptizisten das Album gleichsam für tot. Denn mit dem neuen Tonträger ging die alte Einteilung in A- und B-Seite verloren - und damit ein wichtiges dramaturgisches Strukturelement. Das Album hat es überlebt.

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