Neues Album "Views":Neues Drake-Album: Ist das noch Hip-Hop?

Maker of film on rapper Drake sues its own star

In Nordamerika ein Superstar, in Deutschland wenig bekannt: Hip-Hop-Erneuerer Drake.

(Foto: AFP)

Der kanadische Rapper hat ein ganzes Genre erneuert. Und nun sein langersehntes Album "Views" veröffentlicht. Fünf Erkenntnisse, die einem beim Hören durch den Kopf schießen.

Von Julian Dörr

In Nordamerika sind gerade Popstar-Wochen. Den Baseballschlägerschwung von Beyoncés audiovisueller Ehebruch-Emanzipation "Lemonade" hat man kaum weggesteckt, da kommt Drake mit seiner neuen Platte raus. Der kanadische Rapper hatte sein viertes Studioalbum schon 2014 angekündigt - und dann immer wieder verschoben. Seit heute ist "Views" nun zu hören. Und weil der Superstar Drake die Regeln des Spiels ganz und gar verinnerlicht hat, gibt es "Views" auch nur exklusiv bei Apple - zum Download im iTunes Store oder als Stream bei Apple Music. Man könnte sich jetzt wieder stundenlang vortrefflich streiten über die neue Veröffentlichungspolitik im Pop, über exklusive Überraschungsalben und Tidal-Finanzpläne, über die Gestaltungsmacht der Großen und die Ohnmacht der Kleinen. Oder man könnte sich dieses langersehnte und überlange "Views" einfach anhören. Und ein paar Erkenntnisse über Drake niederschreiben, die einem beim Hören so durch den Kopf schießen.

Drake ist der König von Toronto

Ursprünglich sollte "Views" ja "Views from the 6" heißen. "The 6", das ist der Spitzname von Drakes Heimatstadt Toronto. Und über deren Musikszene thront der selbsternannte "6 God" - nun ja, wie ein Gott. So unangefochten wie auf "Views" war diese Position noch nie. Das Albumcover zeigt das Wahrzeichen der Stadt, den CN Tower, und ganz oben - winzig klein und Photoshop sei Dank - sitzt Drake. "Started from the bottom, now we're here" hieß es auf der Vorgänger-Platte "Nothing Was The Same".

Damit das so bleibt, hat Drake für "Views" neben Haus- und Hof-Produzent Noah "40" Shebib eine ganze Reihe junger und aufstrebender Künstler aus Toronto um sich geschart. Doch sind das keine Allianzen auf Augenhöhe - wie bei der anderen großen Freundesammlerin Taylor Swift -, vielmehr gibt Drake den Schutzpatron, der gleichzeitig die Kreativität der jungen Lokalhelden anzapft.

Drakes Einfluss ist dabei jedoch nicht zu unterschätzen. "I turned the 6 upside down, it's a 9 now", rappt er auf "9". Sein introspektiver Hip-Hop hat die Genregrenzen zwischen Rap und R'n'B verwischt - und damit eine ganze Generation von Musikern überhaupt erst ermöglicht. Ohne Drake kein The Weeknd. Weshalb man beim Hören von "Views" das Gefühl nicht los wird, dass hier jemand seiner Stadt und vor allem sich selbst ein eigenes Denkmal bauen will. Immer wieder prasselt der Regen in den Interludes, der Wind pfeift zwischen den Tracks hindurch. "Views" soll ein Konzeptalbum sein, ein Jahr in Toronto, von Winter zu Winter. Dass derlei Ambitionen einer Platte für gewöhnlich eher schaden, sei jetzt mal dahingestellt. Denn eines steht fest: Der Sommer zwischen der Dancefloor-Reduktion "One Dance" und dem sanften Liebes-Getrommel von "Too Good" wird ein echter Hit. Nicht nur in Toronto.

Drake hat das Internet durchgespielt

Wobei Toronto schon beinahe egal ist. Denn Drake herrscht noch über ein ganz anderes und ungleich wichtigeres Königreich: das Internet. Als einer der ersten globalen Künstler hat der Rapper die Mechanismen des Internets nicht nur verstanden - er hat sich zur treibenden Kraft seiner Ästhetik gemacht. Das Meme ist in Drakes Kunst immer schon mitgedacht. Zum Beispiel wenn er sich im Video zu "Hotline Bling" - "Views" im Übrigen als Bonustrack angehängt - im Rollkragenpulli zum Beat mehr windet als dass er tanzt. Drake gibt die Impulse, das Netz entwickelt sie weiter - zu visuellen Remixen auf Twitter, Instagram und Vine.

Das bereits erwähnte Albumcover ist da nur das jüngste Beispiel: Auf Drakes Webseite kann man ein beliebiges Foto hochladen und sich den kleinen Drake sonstwohin setzen. Das mag für die meisten nur eine Spielerei sein, ist aber ein nahezu subversiver Akt. Drake hat seine eigene Lächerlichkeit immer umarmt - für Rapper keine Selbstverständlichkeit. Durch diese ständige Selbstironisierung hat sich der Kanadier in den vergangenen Jahren eine nahezu unangreifbare Stellung erarbeitet. Eine Stellung, in der sich schlechte PR in gute verwandelt. All die homophoben Sprüche über den verweichlichten "type of nigger" haben Drake nur größer gemacht.

Uncool ist das neue Cool ist das neue Uncool

Drake ist eine Anomalie. Er ist der erste Rapper, der nicht trotz sondern gerade wegen seiner augenscheinlichen Uncoolness zum Star wurde. "They think I had the silver spoon but they'll get it soon/ I still got something left to prove since you left me room" heißt es im Schlusstrack von "Views" und man muss das als Ansage an all die lesen, die Drake wegen seiner bürgerlichen Herkunft und seiner mangelnden street credibility nicht ernst nehmen. Dabei war der Kanadier - neben Kanye West, aber dazu gleich mehr - der erste Rapper, der den Mumm hatte, sein gebrochenes Herz zu zeigen. Und damit Weltruhm erlangte.

Doch die emotional-lyrische Wucht von "Views" sorgt heute für ein anderes Problem. Drake hat uncool cool gemacht. Weshalb nun jeder uncool sein will - und Drake sein wichtigstes Alleinstellungsmerkmal verloren hat.

Drake hat vielleicht einen größeren Pool als Kanye, aber ...

... "The Life of Pablo" wird am Ende wohl das größere Album bleiben - vielschichtiger und visionärer. Was den wunderbar flapsigen Diss mit dem Pool aus der Single "Summer Sixteen" umso schöner macht. Kanye West und Drake, das sind mitnichten Rivalen. Auf "Pablo" arbeitete Drake an "30 Hours" mit, Kanye hat für Drake nun "U With Me?" produziert - ein düsterer Gedankenmahlstrom. Kanye West und Drake, das war spätestens mit "808s & Heartbreak" und "Thank Me Later" auch ein Paradigmenwechsel im vom Gangsta-Rap dominierten Hip-Hop. Was uns zur abschließenden Frage führt:

Ist das jetzt noch Hip-Hop?

Eine musikalisch nur bedingt interessante Frage. Hip-Hop ist schon seit einigen Jahren einer der kräftigsten Innovationsmotoren der Popmusik. Dass zeitgenössischer Pop nun also klingt wie Hip-Hop, wem will man es vorwerfen? Einerseits. Andererseits scheut "Views" auch nicht die große Geste. Gleich im ersten Track "Keep the Family Close" erheben sich die Bläser, Drake croont vor einem halben Sinfonieorchester: Orgel, Streicher, Trommelwirbel, alles dabei. Breitwandig geht es weiter, ganz anders als auf dem klaustrophobischen Trap-Mixtape "If You're Reading This It's Too Late".

Sicher, die zielsicheren Ratatatata-Salven von Drakes besten Rap-Zeilen finden sich auch hier. Auf "Grammys" zum Beispiel - mit Future, Drakes Buddy aus dem Süden. Oder auf dem Soul-Bombast-Finale des Titeltracks. Zwischendrin gibt es dann aber auch viel Fläche, über die der kalte kanadische Wind pfeift. Und ein paar tolle Popsongs, wie die Rihanna-Revanche "Too Good". Man sieht Drake beinahe schon als wunderbar schmalzigen Sambalehrer durch den Saal schwofen.

Ein letzer Gedanke sei an dieser Stelle noch kurz erlaubt, er ist sehr schön und zwingt zum Nachdenken: Was spricht dagegen, Drakes Musik als Hip-Hop zu bezeichnen? Der New Yorker Autor Frank Guan schreibt in einem sehr empfehlenswerten Essay für das n+1 magazine, dass sich Hip-Hop nicht über Musik sondern über die schwarze Stimme definiert. Und die ist in Drakes beinahe hautfarbenloser Musik weit weniger präsent als beispielsweise auf Beyoncés "Lemonade". Aber wer sind wir weißen Kulturimperialisten-Kritiker, das zu bestimmen?

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