Neues Album "A Moon Shaped Pool":Radiohead lassen die Grenzen der Rockmusik hinter sich

Radiohead

Nähert sich dem Klischeebild eines Siebzigerjahre-Pubrocksängers: Thom Yorke.

(Foto: dpa)

Was bleibt übrig, wenn man praktisch alles schon mal irgendwie probiert hat? Die schönste, paranoideste und wärmste Trostmusik.

Albumkritik von Torsten Groß

Man kann ja kaum noch so schnell hören, verarbeiten und vor allem: schreiben, wie nun ständig aus dem scheinbaren Nichts über Nacht irgendwelche Alben veröffentlicht werden. Aber Radiohead haben diese Guerilla-Disziplin der plötzlichen Attacke, wenn schon nicht erfunden, so doch mindestens popularisiert, weswegen es natürlich absolut folgerichtig ist, wenn jetzt nach Beyoncé, Drake und James Blake diese verrückten 14 Internet-Tage mit einem neuen Album von, genau: Radiohead zu Ende gehen. Zumal man es in diesem Fall sowieso nicht anders erwartet hatte. Seit Monaten war klar: Da kommt etwas. Und wenn es kommt, dann ganz sicher nicht auf die gute alte Heute-ist-Freitag-es-gibt-ein-neues-Radiohead-Album-die-ganze-Stadt-ist-bereits-zuplakatiert-Art.

Fünf Alben lang hatten Radiohead einen Lauf, wie es ihn nicht oft gibt im Pop

Nun ist es also da. Bereits Tage vorher hatten Radiohead die Inhalte ihrer sämtlichen Online-Profile gelöscht, eine neue Single und ein Video veröffentlicht, schließlich ein neues Album angekündigt. Sonntag, kurz vor dem Tatort war dann soweit, Muttertag, perfekt. Schöner Titel auch, "A Moon Shaped Pool", klar, was auch sonst: Ein vom Mond geformter Pool, logisch. Und wie klingt dann wohl ein solcher Pool? Natürlich verwunschen! Radiohead führen auf ihrem neunten Album eine geisterhafte Schwebemusik auf, vorzüglich arrangiert, mit Engelschören versehen, wie in der großartigen Elegie "Decks Dark". Zauberhaft hingetupfte Melodien, die sich auf rätselhafte Weise in einem stetigen Zustand des Unkonkreten zu befinden scheinen, mit beinahe jazzhaft offenen Bezügen, krautrockartigen Jams und dem zu jedem Zeitpunkt absolut geschmacksicher arrangierten London Contemporary Orchestra, dirigiert von Hugh Brunt. Insgesamt elf Songs, die so sind wie die Gedanken in den tiefsten Stunden der Nacht zwischen Wachen und Schlaf. Also dann, wenn alles viel BEDEUTENDER und furchteinflößender erscheint als am Tag. Dadurch aber irgendwie auch: wahrhaftiger.

Das sind jetzt insgesamt also erst mal sehr gute Nachrichten, denn man konnte durchaus Angst haben vor diesem Album. Von "The Bends" bis einschließlich "Hail To The Thief" hatten Radiohead fünf Alben lang einen Lauf, wie es ihn nicht so oft gibt im Pop. Danach verloren sie ein bisschen die Orientierung, kann ja auch mal passieren. "In Rainbows" war sehr schön, am Anspruch dieser Band gemessen aber beinahe Repertoirepflege. Es war die Zeit, in der die sogenannte Veröffentlichungsstrategie von Radiohead interessanter war, als das dann tatsächlich Veröffentlichte. Mit "The King Of Limbs" gab es 2011 erstmals ein weitestgehend egales Radiohead-Album, auf dem die Anleihen bei Minimal und Dubstep nicht aufregend und experimentell, sondern eher vorgestrig wirkten. Das Verflixte: Man kann eben auch ganz ohne Gitarren und Strophe-Bridge-Refrain-Songs berechenbar klingen.

Es ging und geht ja hier nach wie vor nicht zuletzt darum, die Grenzen der Rockmusik hinter sich zu lassen. Wenn bei einem solchen Vorhaben aber die Souveränität fehlt, wird es schnell angestrengt und anstrengend. Der alte Vorwurf der Biestigkeit, von Rockfreunden bereits seit dem Ende der Neunziger vorgebracht, traf irgendwann tatsächlich zu. Witziger Randaspekt übrigens: Je mehr Thom Yorke sich musikalisch von der Rockmusik abwendet, desto mehr nähert er sich optisch dem Klischeebild eines Siebzigerjahre-Pubrocksängers mit schmalzig langen Haaren und Vierwochenbart.

Total da und jetzt, aber gleichzeitig potenziell zeitlos

Letzteres lässt sich wunderbar überprüfen in einem fantastischen Video des Filmemachers Paul Thomas Anderson zum neuen Song "Daydreaming", in dem Yorke reichlich alienated durch zunehmend skurrile Alltags-Set-ups wankt, um schließlich über eine leuchtende Winterlandschaft in einer Höhle am wärmenden Feuer zu landen. Im Prinzip steht dieses Video repräsentativ für das Grundgefühl der ganzen Platte. Natürlich fühlten sich Radiohead noch nie dem reinen Frohsinn verpflichtet, aber die Wucht der Trauer, der Verzweiflung, eventuell sogar der Resignation im Angesicht einer aus den Fugen geratenen Welt, haben sie selten zuvor mit so einer Drastik vermittelt wie auf "A Moon Shaped Pool". "A low flying panic attack" heißt es in "Burn The Witch", der ersten Single. Es geht um Donald Trump und das Elend der Flüchtlinge, um Kriege und Verteilungskämpfe. Weil aber niemand es fertigbringt, eine an sich paranoide Angstmusik mit so viel Wärme aufzuladen, sind "Desert Island Disk", das grandiose "Identikit" oder "The Numbers" bei aller offensichtlichen Verzagtheit zugleich die schönste Trostmusik.

Radiohead - 'A Moon Shaped Pool'

"A Moon Shaped Pool" - ein vom Mond geformter Pool, logisch. Und wie klingt dann wohl ein solcher Pool? Natürlich verwunschen!

(Foto: dpa)

Einige der neuen Lieder mögen einem bekannt vorkommen. Die das Album abschließende Klavierballade "True Love Waits" wurde bereits 1995 für "The Bends" in Erwägung gezogen, erschien später in einer Live-Version. Und auch "Burn The Witch" mäandert seit Jahren unvollendet durch den Radiohead-Kosmos. Nun gelang es der Band gemeinsam mit Dauerproduzent Nigel Godrich erstmals und endlich, überzeugende Versionen dieser Songs auszuarbeiten. Eines dieser lange Zeit gereiften Lieder heißt lustigerweise "Present Tense", und ist genau das: total da und jetzt, aber gleichzeitig potenziell zeitlos, die alten und die neueren Radiohead antizipierend, also so, wie die allerbeste Musik eigentlich immer klingen sollte.

Die Frage, was übrig bleibt an musikalischen Möglichkeiten, nachdem man praktisch alles schon mal irgendwie probiert hat und der Weg des Elektronischen keine weiteren Erkenntnisse mehr bringt, haben Radiohead auf vorbildliche Weise beantwortet. Der komische Zwischenzustand, in dem die Band sich einige Jahre befunden hat, ist beendet. Auf seine Art ist "A Moon Shaped Pool" so radikal und wegweisend für das Werk dieser Band wie seinerzeit "Kid A".

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