Favoriten der Woche:Eine Jazzlegende im Wirtshaus

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Abdullah Ibrahim Pressefotos Enjoy Jazz Festival (Foto: Marina Umari)

Der große Pianist Abdullah Ibrahim lebt im Chiemgau und spielt dort ein Geburtstagskonzert. Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Joachim Hentschel, Martina Knoben, Marlene Knobloch, Andrian Kreye und David Steinitz

Jazz: Abdullah Ibrahim

Einmal im Jahr gibt der südafrikanische Pianist Abdullah Ibrahim zu seinem Geburtstag im Oktober in seinem Nachbardorf ein Konzert. Dieses Jahr ist das am 14. und 15., also an diesem Wochenende. Und weil er im Chiemgau lebt, ist das in Söllhuben, wo es im Gasthaus Hirzinger eine dieser Konzertscheunen gibt, die in ganz Bayern hin und wieder Weltklasse aufs Land bringen. Sein 89. Geburtstag ist es schon, deswegen hat er sowohl in seiner Heimat als auch im Exil viel Geschichte erlebt und gemacht. Daheim in Kapstadt wurde er als Teenager Ende der Vierzigerjahre unter seinem Spitznamen "Dollar Brand" Berufsmusiker, fand früh zum Jazz und ging dann auch schon bald ins Exil. Von einer Tournee mit dem Musical "King Kong" kamen er und seine damalige Frau Sathima Benjamin 1962 einfach nicht mehr zurück. Sie zogen nach Zürich, traten zwei Jahre lang im Jazzclub Africana auf. Dort entdeckte sie Duke Ellington, der ihr Mentor wurde. Es folgten New York, Begegnungen mit den Pionieren des Bebop wie Thelonious Monk, für Brand bald schon Solo-, Trio- und Ensembleaufnahmen, 1968 die Konvertierung zum Islam und der neue Name.

Er kehrte dann immer wieder mal in seine Heimat zurück. 1974 nahm er dort zum Beispiel das Stück "Mannenberg" auf, eine Hymne, für die er auf die Filzhämmer des Klaviers Reißnägel gedrückt hatte, damit es wie Marabi klang, jene Musik, die sie in den Townships in den Kaschemmen spielten. Das Stück war so eingängig mit seiner Melodie in der Balance zwischen Aufbruchsstimmung und Melancholie, dass es bald zur inoffiziellen Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung wurde.

Seit mehr als zehn Jahren lebt Ibrahim nun schon mit seiner Frau in einem umgebauten Bauernhaus im Chiemgau. Bei einem Besuch dort erzählte er, dass ihn die Gegend mit den Bergen an seine Heimat am Kap erinnere. Und die Szene im Hirzinger, wo sonst Leute auftreten, die Volksmusik jenseits aller Bierzelt-Klischees sehr ernst nehmen, sei sehr ähnlich wie die Jazzszene in Südafrika, die immer schon die Musik ihrer Großeltern pflegte. Seine Geburtstagskonzerte im Hirzinger liebt er inzwischen so sehr, dass er während der Pandemie auch ohne Publikum dort spielte. Daraus ist dann das hinreißende Album "Solotude" geworden. Wer wissen will, was einen am 14. und 15. Oktober für atemberaubende Abende erwarten, kann da mal reinhören. Andrian Kreye

Popsong: "Sitting is the Opposite of Standing"

Sitzen, eigentlich das Weißbrot der Körperhaltungen, endlich würdigt es mal jemand. (Foto: Brian Jordan Alvarez/ TikTok)

Der Mensch macht viel Erzählenswertes, er liebt und lügt, und über all das schreibt er dann Songs, aber immer fällt eins dabei hinten runter: das Sitzen. Es ist nicht sexy, nicht gesund, eher das Weißbrot der Körperhaltungen, trotzdem reißt der äquatorumfassende Trend nicht ab. Und während ein paar Gesundheitsavantgardisten mit ihren Wirbelsäulen vor höhenverstellbaren Schreibtischen knacksen, verbreitet ein viraler Hit die nichts als positive Message: "Sitting is the Opposite of Standing". So heißt der Song, den TJ Mack Mitte September auf Tiktok postete. In weniger als zwei Wochen über zweieinhalb Millionen Aufrufe. Dahinter steckt der fabelhafte Comedian Brian Jordan Alvarez, der im Video mit angesommerter Reggae-Dub-Intonation singt: Sitzen ist das Gegenteil von Stehen. Sitzen ist das Gegenteil von Herumrennen. Sitzen ist eine wundervolle Sache. Opernsängerinnen, Countrymusiker coverten bereits. Mit mehr ist zu rechnen, was soll man sagen? Der Mann hat einen Punkt. Marlene Knobloch

Krimi: "Am Anfang ist der Tod"

Vom Titel sollte man sich nicht abschrecken lassen. (Foto: Suhrkamp Verlag)

Berlin und auch Babylon - aber in der Gegenwart. Der spanische Schriftsteller Jesús Cañadas lebt seit Jahren in der deutschen Hauptstadt. Er ist ein gnadenloser Beobachter aller Berlin-Facetten, von brutalen Geflüchteten-Parallelwelten bis zu den lächerlichen Hipstertreffs in Neukölln. Sein Krimi trägt den etwas pathetischen Titel "Am Anfang ist der Tod" (Suhrkamp Verlag, 440 Seiten, 17 Euro). Aber davon darf man sich nicht abschrecken lassen. Die Geschichte ist ein astreiner Hardboiled-Thriller über einen jungen Kommissar, der auf seinen ersten großen Fall angesetzt wird: Eine Schülerin ist aus einem Internat verschwunden, gefunden wurde nur ein blutiger Zahn in ihrem Zimmer - und eine rätselhafte Botschaft in einem alten Exemplar von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". Wenn der "Tatort" doch immer so wäre wie dieser meisterliche Krimi. David Steinitz

Doku: "Heaven Can Wait"

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Wie anders Popsongs klingen, wenn alte Menschen sie singen: "Wovon sollen wir träumen, so wie wir sind" etwa von Frida Gold oder ein voller Überzeugung geschmettertes "I feel good!". Dass die Sänger die Erfahrungen eines langen Lebens in die Lieder legen, das Wissen um die geschwundenen Möglichkeiten und den sich nahenden Tod, gibt den Texten Tiefe. Da muss nicht jeder Ton sitzen: "Es geht um den Ausdruck", sagt der Leiter des Hamburger Seniorenchors "Heaven Can Wait", den Sven Halfar in seiner Doku porträtiert. Der Gesang berührt, weil er Erfahrungen und Gefühle zum Ausdruck bringt. Die Auftritte des Chors sind aber auch eine professionelle, mitreißende Show.

Siebzig ist das Mindestalter, das älteste Chormitglied ist über neunzig. Körperliche Einschränkungen kennen die meisten, einer erzählt weinend vom Tod seiner Frau. Die Schrecken des Alters sind im Film aber nicht allzu dominant. Nicht, weil sie verdrängt würden, aber es gibt schließlich auch noch anderes, außerdem weiß ohnehin jeder, wohin die Reise führt.

Wenn schon alt sein, dann jedenfalls so lebenshungrig, oft fröhlich und eigenwillig wie diese Sänger. Die Mitgliedschaft im Chor, die gemeinsamen Proben und Auftritte - auf "richtigen" Bühnen, nicht im Seniorenheim - wirken wie ein Lebenselixier. "Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass man in dem Alter noch so viel Spaß haben kann", sagt eine Frau.

Halfar skizziert Mini-Porträts der Sänger, Rückblicke auf lange, sehr unterschiedliche Leben. Manche haben über Jahrzehnte glückliche Partnerschaften oder Ehen erlebt, sind viel gereist, einer hat den Keller voller selbstgemalter Bilder. Andere haben ihre Träume und Sehnsüchte zurückgestellt oder ignoriert und fühlen sich erst im Alter befreit.

Immer wieder kommt von den Alten die Mahnung an die Jungen, im Jetzt zu leben, die Zeit zu nutzen, die jeder hat. Im Programm des Chors ist auch ein Lied von Udo Lindenberg: "Nimm dir das Leben und lass es nicht mehr los, denn alles, was du hast, ist dieses eine bloß." Ein Feelgood-Film im besten Sinn. Martina Knoben

Fußballbuch: "You'll Never Sing Alone"

Vereinshymnen, Kommentarsongs, singende Fußballer, sogar Ultra-Chöre: alles drin in diesem Buch. (Foto: Ventil Verlag)

Der US-Idee mit den Popstars in der Super-Bowl-Halbzeitshow war der Deutsche Fußball-Bund 1978 meilenweit voraus: Zur WM in Argentinien nahm man den prominenten Heimorgel-Entertainer Franz Lambert mit ins Mannschaftslager. Lambert dudelte zur Berieselung beim Training sowie im Stadion bei deutschen Spielen. Nach der 2:3-Schmach gegen Österreich wiederholte man das Experiment nie wieder. Es ist nur eine der unzähligen Anekdoten und historischen Infos, die Gunnar Leue im großartigen Buch "You'll Never Sing Alone - Wie Musik in den Fußball kam" (Ventil, 256 S., 28 Euro) erzählt. Von Vereinshymnen über Kommentarsongs, von singenden Fußballern bis zu Ultra-Chören reicht das Panorama. Die Verwandtschaft zwischen Sport und Pop ist keine Überraschung, hier wird sie dokumentiert und seziert. Joachim Hentschel

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