Favoriten der Woche:Einer der großen Filme der Siebziger

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Katharina Thalbach in "Fluchtweg nach Marseille". (Foto: Ingemo Engström, Gerhard Theuring, 1977)

Der Filmessay "Fluchtweg nach Marseille" ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten: Diese und weitere Empfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Harald Eggebrecht, Fritz Göttler, Gerhard Matzig, Alexander Menden und Peter Richter

Filmklassiker: "Fluchtweg nach Marseille"

Einer der großen, in Vergessenheit geratenen Filme der Siebziger, restauriert und auf DVD nun in der Edition Filmmuseum: "Fluchtweg nach Marseille", 1977 von Ingemo Engström und Gerhard Theuring, mit Rüdiger Vogler und Katharina Thalbach. Ein Filmessay über Flucht, Widerstand, Erinnerung, eine Fahrt durch Frankreich nach Marseille, einst Treffpunkt der Emigranten auf der Flucht vor dem Faschismus - von ihr erzählte Anna Seghers 1941 im Roman "Transit" (den Christian Petzold 2018 verfilmte). Für Engström/Theuring dient der Roman als Leitfigur, ihre Methode kommt von Brechts "Arbeitsjournal", das Zusammenfügen von Landschaften und Lagern, Wochenschauaufnahmen und Erzählungen Überlebender. "Was soll ich dir sagen...", heißt es immer wieder im Kommentar. Das Erzählen hat damals, fünfzehn Jahre nach dem Oberhausener Manifest, seine Selbstverständlichkeit verloren: "Wir sprechen von Frankreich im Zeitalter der käuflichen Träume... Wir sprechen von der Sehnsucht, die keinen Ort mehr weiß. Wir sprechen von Bildern, die ohne Erinnerung sind." Fritz Göttler

Kunst: Ibrahim Mahama in Osnabrück

Der Künstler Ibrahim Mahama vor seinem Werk. (Foto: Imago/Detlef Heese)

Die Stadt Osnabrück feiert in diesem Jahr mehrere Jubiläen, darunter den 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens. Die Kunsthalle wird immerhin 30 und hat Werke bei zeitgenössischen Künstlern in Auftrag gegeben. Der bekannteste ist sicher der Ghanaer Ibrahim Mahama, der bereits an der Biennale in Venedig teilgenommen hat. Mahamas Osnabrücker Projekt heißt "Transfer(s)". Es verbindet das derzeit hoch im Kurs stehende Thema postkolonialer Geschichtsbetrachtung mit einem Christo-Gestus: Der Künstler hat die Fassade des leer stehenden Kaufhof-Gebäudes mit zusammengenähten Jutesäcken verhüllt. Damit weist er auf die Handelsrouten zwischen der Leinen produzierenden Stadt Osnabrück und Afrika hin, belebt aber vor allem den ansonsten optisch recht unerfreulichen Neumarkt mit einem Hingucker. Alexander Menden

Designgeschichte: Paul Jaray im Kunsthaus Dahlem

Paul Jarays Stromlinienformen passten nicht ins heraufziehende Design-Muskulaturkonzept der Nazis. (Foto: Arsenale Institute)

Das Werk von Paul Jaray, dem visionären Auto-Ingenieur und Aerodynamiker aus Wien, ist jetzt endlich auch in einer großen Ausstellung in Berlin zu studieren. Das ist natürlich noch viel besser als die kleine Ausstellung, die der Kulturhistoriker Wolfgang Scheppe dazu vor zwei Jahren in seinen Privatausstellungsräumen in Venedig ausgerichtet hatte. Denn in Berlin kann Scheppe viel mehr zeigen, viel mehr Leute können und sollten es sehen - und vor allem: Jaray wird in dem einstigen "Staatsatelier" gezeigt, das die Nazis dem Bildhauer Arno Breker errichtet hatten.

Seit in dem Bau das Kunsthaus Dahlem residiert, werden hier nun bevorzugt Künstler gezeigt, die im NS verfolgt wurden. Im Fall von Jaray, der aus einer jüdischen Familie stammt, trifft sich das aber auch deshalb, weil die Muskelheroen, für die Breker als Bildhauer bekannt ist, in den Worten Scheppes eigentlich auch nur "anthropomorphe Karosserien" seien - reine Oberflächen, ohne Bezug zu irgendeinem darunterliegenden Skelett, während Jarays naturwissenschaftliche Obsession mit der Stromlinienform auffällig auch mit der künstlerischen Avantgarde in der Skulptur korrespondiert. Das ist allerdings nur eine Pointe unter vielen. Dazu gehört auch die Replik des auf Jaray zurückgehenden Auto Union Typ B Rekordwagens, der hier nun wieder in so einer neoklassizistischen Säulenarchitektur aufgebahrt steht wie bei der Internationalen Automobil- und Motorrad-Ausstellung von 1935, als die kriegsvorbereitende Rennfahrerverkultung der Nazis in voller Fahrt war.

Unmittelbar daneben die linke Motor-Publizistik, mit der Jaray in den Zwanzigern für die Individualmotorisierung des Proletariats kämpfte. Und daneben wiederum zeitgleich verfasste Ausführungen über die Endlichkeit fossiler Energieträger sowie über das, was man heute "Erneuerbare" nennt. Oder solche, die schon auf das Thema künstliche Intelligenz hinausweisen ("Die Befreiung des Menschen durch die Maschine"). "Paul Jaray - Die Vernunft der Stromlinie" läuft bis zum 3. September. Aber wer bis dahin wirklich das ganze schwindelerregende Geflecht von Themen, Formen, Bezügen und Querverbindungen durchdringen will, sollte am besten heute noch damit anfangen. Peter Richter

Klassik: Biografie von Ferenc Fricsay

Es lohnt sich, Fricsay zu entdecken: "Ferenc Fricsay: Der Dirigent als Musiker". (Foto: edition text + kritik)

Es gibt ein berühmtes Filmdokument: Das Radiosinfonieorchester Stuttgart probt 1960 Smetanas "Moldau" unter Leitung von Ferenc Fricsay. Der asketisch schlanke Dirigent fasziniert mit Witz, Anschaulichkeit und freundlicher Strenge. Unter den wichtigen Dirigenten in der Mitte des 20. Jahrhunderts ragt Fricsay durch intellektuelles Feuer, rhythmischen Schwung, klangliche Sensibilität und außergewöhnliche Fähigkeiten zur kommunikativen Übertragung seiner musikalischen Ideen auf Orchester und Publikum heraus. Fricsay wurde 1914 in Budapest geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er für rund 15 Jahre eine Zentralgestalt in Wien, Salzburg, München und vor allem in Berlin für den Neuaufbau der Musikkultur. Dass er heute trotz einer Vielzahl von Live-Mitschnitten und Plattenproduktionen eher Spezialisten ein fester Begriff ist für einen federnden und geistreichen Dirigierstil, ist seinem frühen Tod 1963 geschuldet. Danach stieg der mediengewandte Herbert von Karajan nicht nur in Berlin endgültig zum Dirigieralleinherrscher auf, ob in zahllosen Schallplattenproduktionen, in Videos, auf weltweiten Tourneen oder bei den Salzburger Festspielen.

In der Buchreihe Solo (edition text + kritik), die sich programmatisch ausführenden Musikern widmet, hat der Musikhistoriker Peter Sühring, Jahrgang 1946, die Monografie "Ferenc Fricsay: Der Dirigent als Musiker" vorgelegt, die Fricsay, sein Denken und seine Bedeutung lesenswert nahebringt. Das gilt auch für die Biografie: Als Wunderknabe erhielt er schon mit sechs Jahren am legendären Liszt-Konservatorium seiner Geburtsstadt Klavierunterricht, später konnte er bei Béla Bartók, Ernst von Dohnányi, Leó Weiner und Zoltán Kodály studieren. 1933 bis 1944 war er Militärkapellmeister in Széged wie schon sein Vater. 1939 dirigierte er erstmals an der Budapester Oper, half jüdischen Künstlern und Verfolgten, wurde vom Militär deshalb angeklagt. Die Gestapo beobachtete ihn, er tauchte in Budapest unter. 1945 nach Einmarsch der Roten Armee leitete er das erste Konzert und sollte die Budapester Philharmoniker neu aufbauen. Bald wurde er nach Wien eingeladen und zu den Salzburger Festspielen. 1948 begann seine Zeit in Berlin. Es lohnt sich, diesen großartigen Dirigenten näher kennenzulernen. Harald Eggebrecht

Architektur: "Wachsende Architektur"

Man meint, man steht im Wald: "Wachsende Architektur: Einführung in die Baubotanik" bei Birkhäuser, 224 Seiten, 52 Euro. (Foto: Birkhäuser Verlag)

In Hamburg wird ein alter Nazi-Bunker umgebaut, auf dem Bunkerdach entsteht ein Park. In Mailand gibt es den "Bosco Verticale": begrünte Wohntürme. Und in Singapur sind so viele Gebäude berankt, dass man meint, man steht im Wald. Grüne Architektur ist das Gebot der Stunde - und sieht als Computersimulation meistens toll aus. Das Problem: Nicht jedes schick begrünte Design besteht am Ende den gärtnerischen Realitätscheck. Die Baubotanik ist eine junge Wissenschaft - obwohl schon das Motiv der "Urhütte" nach Vitruv zeigt, dass der Ursprung aller Architektur vegetabil ist. In "Wachsende Architektur: Einführung in die Baubotanik" informieren Ferdinand Ludwig, Professor für Green Technologies in Landscape Architecture in München, und Daniel Schönle, Architekt und Stadtplaner in Stuttgart, über den uralten Futurismus der Baubotanik, genau und anschaulich inspirierend. Man möchte nie mehr ein Planungsbüro erwischen, das von grüner Architektur schwärmt und dieses Buch nicht im Regal stehen hat. Noch vor den Blumentöpfen. Gerhard Matzig

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