Parteien im Web:"Der Kanzler der Herzen"

Lesezeit: 3 min

Spät am Wahlabend verkündete die SPD im Internet noch "Wir haben uns rangekämpft" - da war die bittere Niederlage bereits definitiv. Im Netz haben jedoch fast alle Parteien verloren.

Noch am Wahlabend um 20.30 Uhr ist Frank-Walter Steinmeier scheinbar voller Zuversicht: "Wir haben uns rangekämpft", lautet die hoffnungsvolle Überschrift in der Rubrik "Aktuelles" seiner persönlichen Wahlkampf-Seite im Internet. Tatsächlich sitzt der SPD-Kanzlerkandidat da gerade in der sogenannten Elefantenrunde und spricht von einer "bitteren Niederlage".

Das Beispiel zeigt: Das Fernsehen hat seine Rolle als wichtigstes Medium am Wahlabend problemlos verteidigt. Steinmeier steht mit seinem wenig aktuellen Internet-Auftritt nicht allein. Wer zweieinhalb Stunden nach den ersten Prognosen auf die Seiten der Parteien und ihrer Spitzenkandidaten schaut, kann nichts entdecken, was nicht im Fernsehen schon lange gesagt ist.

Eine einzige Danksagung

Angela Merkels Seite sieht nicht einmal danach aus, als sei hier eine schnelle Reaktion auf das Ergebnis geplant. "Es ist ein Armutszeugnis, dass die Parteien das Internet nicht nutzen, um zu reagieren, sondern auf das traditionelle Fernsehen setzen", sagt Markus Beckedahl, einer der bedeutendsten Politblogger in Deutschland. Allein Guido Westerwelle habe bis 20.00 Uhr seinen Dank im Online-Kontaktnetz Facebook veröffentlicht.

Beckedahl, Betreiber des einflussreichen Weblogs "netzpolitik.Org", äußert wenig Verständnis über die verhaltenen Internet-Reaktionen der Parteien auf die Wahl. "Wenn ihre Spitzenpolitiker in der Lage sind, nach 18.00 Uhr im Fernsehen klare Botschaften zu verkünden, wieso sind sie dann nicht in der Lage, das auch im Internet zu tun?", fragt Beckedahl. Bereits am Nachmittag seien die Wahlkampfzentralen über die Prognosen informiert und könnten Statements für das Internet ebenso vorbereiten wie die Fernsehansprachen.

Auffällig ist am Wahlabend, dass die kleinen Parteien deutlich schneller im Internet auf das Wahlergebnis reagieren als SPD und Union. Bereits wenige Minuten nach den ersten Prognosen stehen freudige Reaktionen im Netz: "Ein historisches Ergebnis", titeln die Grünen; im "Newsticker" der SPD ist da noch zu lesen: "Wahllokale geöffnet". Die Liberalen schreiben da bereits von einem "sensationellen Abschneiden der FDP", die Linke freut sich über einen "großartigen und außerordentlichen Erfolg". Auf "cdu.de" ist hingegen noch vom "Schluss-Spurt" die Rede.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie das Wahlergebnis von der Netzgemeinde aufgenommen wird.

Ein ähnliches Bild stellt sich auf Facebook dar: Die Bundeskanzlerin kann sich gegen 19.00 Uhr über insgesamt fünf Glückwünsche auf ihrem Profil freuen - bei hunderttausenden Nutzern, von denen sich 18.000 zu offiziellen Merkel-Fans erklärt haben. "Yes, she can ;-)" schreibt eine Frau auf Merkels Seite.

Internetexperte Beckedahl hat die Reaktionen der Nutzer des Mitteilungsdienstes Twitter in den Stunden nach der Wahl beobachtet: "Die meisten sind enttäuscht", sagt er der AP. "Die neuen Öffentlichkeiten im Netz tendieren nicht zu Schwarz-Gelb." Via Twitter schreiben zahlreiche Nutzer über das Wahlergebnis, viele äußern sich skeptisch oder satirisch. Auch viele weniger im Rampenlicht stehende Politiker machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Grünen-Bundestagskandidat Wolfgang Strengmann-Kuhn schreibt zum Beispiel: "Wenn Westerwelle Außenminister wird, hilft nicht einmal auswandern."

Medium wird nicht ernstgenommen

Klar wie das Wahlergebnis im Bund ist auch, dass sich Twitter-Nutzer nicht davon abhalten lassen, angebliche Prognosen vor Schließung der Wahllokale zu verbreiten. Viele Nutzer behaupten am Nachmittag, die aktuellen Ergebnisse der Nachwahlbefragungen zu kennen. Dutzende Mitteilungen finden sich, allen Drohungen des Bundeswahlleiters zum Trotz. Kaum ein angebliches Ergebnis hat Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen.

Beckedahl erklärt das umfangreiche Gezwitscher mit der hohen Medienaufmerksamkeit. Von einem möglichen Verbot, die Prognosezahlen vor Schließung der Wahllokale zu veröffentlichen, hält der Politblogger wenig. "Man kann ja auch mal darüber reden, ob man die Exit-Polls demokratisiert, wenn so viele Medienleute und Politiker im Vorhinein Bescheid wissen."

Die Wahlkampf-Bilanz Beckedahls fällt insgesamt schlecht aus: "Die Parteien haben die Chancen nicht genutzt." Die kaum vorhandenen Reaktionen der Parteien im Internet hätten gezeigt, dass sie das Medium nicht ernst nähmen. Doch seien zumindest ein paar Ansätze zu erkennen gewesen. Jetzt müssten die Parteien dafür sorgen, die neu gewonnenen Internet-Anhänger dauerhaft an sich zu binden.

Selbst für Wahlverlierer Steinmeier hält das Internet Trost bereit, zumindest etwas. Auf dem Facebook-Profil des SPD-Kandidaten schreibt gegen 19.00 Uhr ein Fan in Großbuchstuben: "Frank ist der Kanzler der Herzen."

© ap/Philipp Heinz/jobr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: