Zweite S-Bahn-Stammstrecke München:Mahnen, bitten, fordern - abblitzen

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Die ehemalige Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) im Landtag vor ihrem Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss Stammstrecke zusammen mit dem FW-Politiker Bernhard Pohl (Mitte), der das Gremium leitet. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Ex-Verkehrsministerin Kerstin Schreyer sagt im Untersuchungsausschuss Stammstrecke aus. Sie hat demnach zweimal eine Abfuhr erhalten, als sie Aufklärung forderte - auch von Ministerpräsident Söder. Sogar die Opposition zollt ihr Respekt.

Von Johann Osel

Maximaler Druck, Druck auf allen Ebenen, Druck, Druck, Druck - man kann kaum zählen, wie oft Kerstin Schreyer das Wort am Mittwoch verwendet. Die frühere bayerische Verkehrsministerin macht im Untersuchungsausschuss zur zweiten Münchner S-Bahn-Stammstrecke der Deutschen Bahn schwere Vorwürfe. Zahlen sollten damals im Jahr 2020 her, zur sich abzeichnenden Bauverzögerung und Kostenexplosion. Experten des Freistaats hatten schon errechnet, was da drohen könnte, und auch ihr "Bauchgefühl" nach Amtsantritt im Februar sei in die Richtung gegangen. Schreyer hat ihren Stimmkreis im Landkreis München, "wir ersticken im Verkehr". Aber von Seiten der Bahn? Wurde beständig "gemauert", man sei "überall gegen eine Wand" gestoßen. Das Problem: "Ich kann nicht in eine Deutsche Bahn hineinregieren als bayerische Verkehrsministerin."

Ende September hatte Schreyer dann doch endlich von Seiten der Bahn von massiven Problemen beim größten Infrastrukturprojekt des Freistaats erfahren, auf Arbeitsebene. Und nun? Das Mahnen, Bitten und Fordern der Ministerin - dieser Eindruck entsteht durch Schreyers Aussage - ging weiter. Intern diesmal. Schreyer hatte zwischenzeitlich die Staatskanzlei informiert und im Kabinett berichtet. Dort wurde sie beschieden: Sie solle sich an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) wenden. Und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) werde einen runden Tisch anberaumen, ein Spitzengespräch mit Bahn, Bund und Freistaat. Scheuer ließ Schreyer nach einem Telefonat und einem Brief abblitzen, wie sie erzählt - sie solle sich doch bitte an Bahnvorstand Ronald Pofalla wenden.

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Und der runde Tisch? Söders Staatskanzlei hatte da offenbar keine Eile. "Es hieß immer: Kommt noch", berichtet Schreyer. Sie habe bis zum Ende ihrer Amtszeit im Februar 2022 daran geglaubt. "Warnsignale" zum Projekt habe sie immer wieder gesendet, damit nicht verkannt werde, "dass die Hütte brennt". Und ein vorgelegtes Konzept der Ministerin für ein großes Paket an Maßnahmen, um den Nahverkehr im Großraum München derweil auf Vordermann zu bringen, hätte eine Grundsatzentscheidung benötigt. Es wäre um mehrere hundert Millionen Euro im Jahr gegangen, "diese Entscheidung kann nur der Ministerpräsident mit einem Go geben", sagt Schreyer. Auch dazu kam es nie.

Es ist die 17. Sitzung des U-Ausschusses, der prüfen soll, wie es zu dem Desaster rund um die Stammstrecke kam. Statt der einst angesetzten 3,8 Milliarden Euro wird für das Mammutprojekt inzwischen fast das Doppelte an Gesamtkosten erwartet. Und die Fertigstellung wird sich voraussichtlich bis ins Jahr 2037 ziehen, ursprünglich war 2028 geplant. Diese Zahlen kamen aber erst Ende September 2022 öffentlich auf den Tisch - sie lösten ein Beben aus und auch das Aufklärungsgremium im Landtag. Die Opposition wirft der Staatsregierung vor, zu spät etwas gegen das drohende Fiasko getan sowie Landtag und Öffentlichkeit zu spät darüber informiert zu haben. Eine Mutmaßung: Söder habe das unliebsame Thema aus dem Bundestagswahlkampf 2021 heraushalten wollen, auch um etwaige Kanzler-Ambitionen nicht zu gefährden. Wie eine SZ-Recherche zeigte, riet ein Referat der Staatskanzlei Ende 2020 in einem internen Vermerk zur "dilatorischen", also aufschiebenden, Behandlung der Causa. Diese sei "kein Gewinnerthema im Wahlkampf". Das Wort "dilatorisch", sagt Schreyer, habe sie vor dem Medienbericht gar nicht gekannt.

"Was wir konnten, haben wir getan", ist ihre Bilanz in der fast fünfstündigen Aussage im U-Ausschuss. Sie meint damit sich und ihre Leute im Ministerium. Schreyer schildert ihr Drängen bei der Deutschen Bahn auf Informationen und ein Zusammenrasseln ("Umgang mittelprächtig") mit Pofalla bei einer Veranstaltung in Nürnberg, nachdem die Zahlen auf Arbeitsebene bekannt geworden waren. Pofalla habe diese in einem Schreiben wenig später wieder für "gegenstandslos" erklärt. Für sie wirkt die Bahn wie eine "Blackbox", nicht willens, Rechenschaft gegenüber einem Auftraggeber wie dem Freistaat abzulegen.

Nach ihrem Bericht im Kabinett, sagt Schreyer, hatte sie aber von Söder "die Zusage, wir kriegen einen runden Tisch" - mit allen Beteiligten, um Lösungen zu finden. Auf Einladung des Ministerpräsidenten, das verstehe sich. Denn wenn nur sie als Fachministerin "eingeladen hätte, wär' auch keiner gekommen". Später habe sie mehrmals nachgehakt, auf allen Ebenen, mit Briefen und SMS direkt an Söder - aber irgendwann aufgegeben. "Wenn keine Antwort kommt, dann ist das so." Eine Bewertung hierzu stehe ihr nicht zu.

Die Grünen stellen Strafanzeige gegen Andreas Scheuer - wegen Verdachts der Lüge

Dass ihr Ausschussvorsitzender Bernhard Pohl (Freie Wähler) ein "Flehen" nach dem runden Tisch attestiert, will Schreyer indes so nicht stehen lassen. Sie habe um Hilfe gebeten in der Staatskanzlei und sei dort eben "nicht nur auf Gegenliebe" gestoßen. 2022 verlor sie bei einer Kabinettsumbildung das Ministeramt. Ob das quasi mit der Rolle als Stammstrecken-Nervensäge zu tun hatte? Das will Markus Büchler (Grüne) wissen. Schreyer sagt dazu, ein Ministerpräsident habe das Recht, sein Kabinett nach eigenen Wünschen zu gestalten. Ihr persönlich habe Söder gesagt, dass sie "keine Fehler gemacht" habe. Ansonsten bescheinigt sogar die Opposition Schreyer einen guten Job. Sie habe die Probleme adressiert, habe Alarm geschlagen, lobt Sebastian Körber (FDP). Inge Aures von der SPD zollt Schreyer "Respekt" für ihr Rückgrat - "tragisch nur, dass der Ministerpräsident nichts daraus gemacht hat".

Und noch eine andere Reaktion zeitigt dieser Mittwoch: Die Grünen teilten mit, Strafanzeige gegen Andreas Scheuer gestellt zu haben, wegen Verdachts auf falsche uneidliche Aussage. Scheuer habe bei seiner Aussage im U-Ausschuss angegeben, den Brief von Schreyer im Oktober 2020 nicht erhalten zu haben. Auf den diese aber sehr wohl eine Antwort erhalten haben will. Auch der heutige Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte im Ausschuss Scheuers Version in Frage gestellt. Grünen-Politiker Büchler sagt: "Wenn Andreas Scheuer wissentlich die Unwahrheit gesagt hat, muss das Konsequenzen haben. Hier geht es um Milliarden an versenktem Steuergeld."

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