Bayern und Berge:Freizeitkollaps im Oberland

Bayern und Berge: Nicht immer und überall ein Erholungsgebiet - im Alpenraum wird sich regelmäßig gestaut. Illustration: SZ

Nicht immer und überall ein Erholungsgebiet - im Alpenraum wird sich regelmäßig gestaut. Illustration: SZ

  • Die Münchner lieben ihre Hausberge. Doch den Einheimischen der vielbesuchten Ausflugsziele ist der Tourismus inzwischen zu viel.
  • Ein Beispiel ist der Walchensee, zu dem an manchen Tagen bis zu 20 000 Menschen kommen. Kein Wunder, dass sich Einheimische zur ersten Demonstration überhaupt versammelt haben.
  • Was kann man dagegen tun? Einen Denkanstoß gab schon der Schriftsteller Peter Rosegger, der Eintrittskarten für die Alpen forderte.

Von Maximilian Gerl, Matthias Köpf und Hans Kratzer

Die Einheimischen haben vom Tourismustrubel schon lange genug. Bis zu 20 000 Menschen kommen an manchen Ausflugstagen zum Walchensee, in rund 6000 Autos. Der große Parkplatz der Herzogstandbahn ist dann schon in aller Frühe überfüllt. Er quillt gleichsam über, so wie es später am Tag die Mülleimer tun. Die Ausflügler, die erst am Vormittag kommen, müssen ihre Autos dann irgendwo anders abstellen. Auch auf der Passhöhe am Kesselberg ist alles dicht, wo die Wanderer zum Jochberg und zum Herzogstand aufbrechen - zwei Hausbergen der Münchner. Auf der Uferstraße von Urfeld bis Walchensee stellen die Surfer gerne ihre Bullys und sonstigen Freizeitfahrzeuge ab. Die Mautstraße, die hinunter in die Jachenau führt, ist sowieso von Autos gesäumt. Um Parkverbote und Rettungswege kümmert sich kaum noch jemand.

Hier spürt man besonders, dass München jährlich um Zehntausende Einwohner wächst. "Man kann es den Leuten nicht verdenken, dass sie raus wollen aus der Stadt", sagt der Jachenauer Bürgermeister Georg Riesch. Doch die Anwohner müssen den Ansturm der Ausflügler fast jedes Wochenende erdulden. Am vergangenen Sonntag sind sie deswegen selbst auf die Straße gegangen: "Walchensee kann nicht mehr - viel zu viel Verkehr", riefen die ungefähr 150 Walchenseer, die sich an der ersten Demonstration überhaupt in ihrem Ort beteiligt haben.

150 Demonstranten sind eine ganze Menge für einen Ort, der nur 350 Einwohner hat. Auf die Großstadt München umgerechnet, müssten dort 640 000 Menschen demonstrieren, wenn an manchen Sonntagen überhaupt so viele in der Stadt sind. Stattdessen hat es den Anschein, sie seien alle in Walchensee, in Garmisch oder in Berchtesgaden. Schier endlose Blechschlangen wälzen sich überdies durchs Tegernseer Tal, durch Wallgau, Krün und Kreuth - und am Sonntagabend wieder hinaus.

Seit Jahren nimmt der Druck zu, vor allem auf das südliche Oberbayern. Zur stetig steigenden Zahl von Münchnern kommen immer mehr Urlauber aus anderen Teilen Deutschlands oder aus dem Ausland. Kein Wunder, dass dieser Region, wie die flächendeckenden Staus am vergangenen Wochenende zeigten, immer öfter der Freizeitkollaps droht.

Jens Badura ist ein habilitierter Philosoph, der sich intensiv mit dem Thema Bergwelt beschäftigt. Sein Berg-Kulturbüro hat er in unmittelbarer Nachbarschaft der Ramsauer Kirche eingerichtet - einem weltberühmten Fotomotiv, das viele Touristen anlockt. Die Diskussion über das Zuviel sei nicht neu, sagt er. Gegenrezepte, die heute von manchen scherzhaft und von manchen ganz im Ernst erwogen werden, wurden schon vor 150 Jahren aufgetischt. Badura ist beispielsweise auf einen interessanten Satz des Schriftstellers Peter Rosegger aus dem Jahr 1855 gestoßen: "So wie man jährlich seinen Waffenpass, seine Jagdkarte lösen kann, so soll der Tourist eine Eintrittskarte in die Alpen kaufen müssen, so etwa die Jahreskarte zu fünf Gulden, die dann von den Steuern der Almbauern abgezogen werden."

Ausstellung Schinnerer

Heimatpfleger Norbert Göttler schlägt vor, auch mal Industrie auszulagern.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Idee klingt verlockend, ist aber in der heutigen Zeit wohl kaum durchzusetzen. Norbert Göttler, der Bezirksheimatpfleger von Oberbayern, bringt eine andere Idee ins Spiel, um den Druck auf die oberbayerischen Bilderbuchorte zu mildern: "Die Tourismusbranche müsste viel stärker als bisher andere Regionen in den Blick nehmen. Es wäre in Bayern noch so viel zu entdecken", sagt er.

Aber auch Göttler weiß nur zu gut, dass vor allem die Münchner sehr auf die Freizeitzone im südlichen Oberbayern fixiert sind. Viele Zuzügler aus dem Norden und dem Osten kommen ja gerade wegen der Nähe zu den Bergen in die Landeshauptstadt. Und einer wie der Dichter Rosegger hat ja selbst das später oft zum Kitsch verkommene Genre des alpinen Heimatromans mitgeprägt - und damit genau das Bild geformt, das damals wie heute Massen von Menschen in die Berge zieht. Die Suche nach einer authentischen Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft oder zur entfremdeten Stadt ist für Badura ein Hauptfaktor, der die Menschen in die Berge zieht - und natürlich ist diese Suche aus Sicht des Philosophen von Anfang an vergeblich, weil sie einem Ideal hinterherjagt, das die ersten Touristen selbst an die Menschen und die Landschaft im Alpenraum herangetragen haben. Badura schält noch drei weitere Trends heraus, die Besucher in die Berge locken: Spektakel mit technischen Überformungen wie Aussichtsplattformen und Seilbahnen, Wellness sowie die Leistung, die sich am Berg zeigen lässt.

Das Problem ist nur, dass viele Orte in den Bergen bereits unter Kapazitätsengpässen ächzen. Die Lage wird sich aber mittelfristig nicht verbessern - im Gegenteil: "Es ist absehbar, dass das Verkehrsaufkommen in Oberbayern angesichts des Bevölkerungswachstums weiter steigen wird, sagt Gerhard Hillebrand, ADAC-Vizepräsident für Verkehr. Ganz zu schweigen davon, dass die Verkehrsinfrastruktur schwächelt. Der öffentliche Nahverkehr in Bayern befinde sich "in der Steinzeit", kritisiert der Bürgermeister von Aschau im Chiemgau, Peter Solnar. Er verweist auf Tirol, wo ein Jahresticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel im ganzen Bundesland für einen Erwachsenen derzeit 499,40 Euro kostet. Dagegen müssen Pendler aus dem bayerischen Sachrang allein für die Busfahrt zum zwölf Kilometer entfernten Aschauer Bahnhof laut Solnar rund 2000 Euro im Jahr bezahlen.

"Eine Patentlösung für alle diese Probleme gibt es leider nicht", sagt Bezirksheimatpfleger Göttler. Er hätte aber durchaus Lösungsvorschläge, um den Wohn- und Freizeitdruck zu lindern. Auch wenn sie schwer durchzusetzen sind, da macht er sich nichts vor. "Der Wirtschaftsraum München ist total überfüllt", sagt Göttler. Abhilfe ist seiner Meinung nach nur zu schaffen, wenn die Großwirtschaft nicht immer weiter in den Standort München investiere. Man müsse vielmehr Industrie auslagern und andere Standorte stärken. Die Großwirtschaft investiere aber bevorzugt in München, sie ziehe die Vorteile daraus, die Nachteile trage aber die Gesellschaft, den knappen Wohnraum, die hohen Mieten und den Verkehrskollaps.

Philosoph Badura erkennt in der Sehnsucht der Massen nach den Bergen durchaus Kontinuitäten in der Geschichte. Nur seien es im Lauf der Zeit immer mehr Menschen geworden, die immer mehr Zeit und immer mehr Geld haben, um das zu suchen, was anfangs nur dem Adel und dann dem Großbürgertum vorbehalten war.

Auf dem Fernwanderweg E5 stellt der Wirt sogar Zelte auf

Der Deutsche Alpenverein (DAV) tritt nun aber auf die Bremse. Der Deutsche Alpenverein (DAV) tritt nun aber auf die Bremse und baut keine neuen Hütten mehr. Als besonders anschauliches Beispiel dafür, dass der Ansturm inzwischen zu groß geworden ist, gilt der Europäische Fernwanderweg E 5, der von Oberstdorf nach Meran führt. Entlang der Route liegt die Memminger Hütte. Um alle Gäste, die bei ihm übernachten wollten, auch unterzubringen, errichtete ihr Wirt schon ein Zelt. Von anderen Orten gibt es Berichte über Wanderer, die im Gastraum schliefen, weil sonst kein Plätzchen frei war. Generell gilt: "Die Infrastruktur ist an der Kapazitätsgrenze", hat DAV-Sprecher Thomas Bucher schon vor einigen Wochen gewarnt. Aktuell tue sich niemand einen Gefallen, der sich auf den E5 begebe. Die spannende Frage ist für Bucher, wie man weiter verfahren soll, damit nicht alles auf Kosten der Umwelt und der Einheimischen geht. Der DAV setzt künftig auf Projekte wie die Bergsteigerdörfer mit nachhaltigem Tourismus ohne neue Lifte und Hotelburgen.

Die wachsende Zahl von Einwohnern stellt aber nicht nur die Bergregion vor Probleme. Im Umland von München schießen die Immobilienpreise in galaktische Höhen. Das mögliche Patentrezept, das viele Politiker zurzeit aus dem Ärmel zaubern, lautet: bauen, bauen, bauen. Das klingt simpel, ist aber kompliziert. Dass sich der Druck dadurch entlädt, das bezweifelt Holger Magel, der frühere Präsident der Bayerischen Akademie ländlicher Raum. "Ich kann nur noch den Kopf schütteln, wie München sich selber kaputtmacht", sagt er. In der Stadt sei ein Verdichtungswahnsinn im Gange, das private Grün verschwinde Stück um Stück. "Wenn es so weitergeht, droht die dritte Zerstörung Münchens."

Magel fordert stattdessen in die Zukunft weisende Lebens- und Arbeitsperspektiven im ländlichen Raum, der durch Globalisierung, falsche Strukturreformen und demografische Veränderungen ins Hintertreffen geraten sei. "Was nützen die besten Arbeitsplätze und Straßen, wenn daneben die Umwelt und Heimat durch maßlose Verdichtungen und Flächenfraß zerstört werden?" München könne das Rennen zwischen Wohnungsbau und angeblich nicht aufhaltbarem Zuzug ohnehin nie gewinnen. Je mehr Wohnungen in München gebaut werden, desto mehr Menschen werden kommen. Die Lösung des Wohnungsbaus liegt für ihn auf dem Land.

Auch Norbert Göttler sagt, man dürfe die Attraktivität einer Stadt wie München nicht auf die Spitze treiben. Er verweist auf das Beispiel Landsberg, das vor 30 Jahren noch eher verschlafen gewesen sei. In Landsberg wohnen, in München arbeiten, das habe der Stadt gut getan. Was ihm Sorgen bereitet, sind weniger die Großstadt und die kleinen Orte als vielmehr die Übergangszonen zwischen Stadt und Land, die sich ungeplant ausweiteten.

Auf die Frage, wie Oberbayern in 30 Jahren ausschauen werde, zuckt Göttler mit den Schultern. Man wisse ja nicht, wie die Entwicklung weitergehe. Im schlimmsten Fall komme es zu einer Verdichtung wie in den großen Zentralorten Paris, Rom und London. Dann wäre der gesamte S-Bahn-Raum städtisches Gebiet. Um es nicht soweit kommen zu lassen, braucht es aber eine politische Initiative, die künftig auf viele Wirtschafts- und Freizeitzentren setzt - und nicht nur auf wenige wie München und Oberbayern.

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