Energiekrise:"Ursula von der Leyen bleibt Ankündigungsweltmeisterin"

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Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte hohe Übergewinne der Energiekonzerne erwartet. (Foto: Johanna Geron/Reuters)

Vollmundig versprach die EU-Kommissionschefin inmitten der Energiekrise 140 Milliarden Euro per Übergewinn-Abschöpfung. Doch diese Zahl war wohl aus der Fantasie geboren.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Die Furcht vor einem kalten Winter war groß, als EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen im September vergangenen Jahres nach Straßburg reiste. Dort sprach sie im Europäischen Parlament, gekleidet in den Nationalfarben der Ukraine, hielt ihre jährliche Rede zur Lage der EU, und versuchte, den Menschen einen Teil der Angst zu nehmen. Die Energiepreise waren in die Höhe geschossen, schon vor Russlands Überfall auf die Ukraine. Und nach Kriegsausbruch besonders, als die Strom- und Gasrechnungen quer durch Europa Urlaubspläne zunichtemachten. "In Zeiten wie diesen", sagte von der Leyen, "müssen Gewinne geteilt und an die Bedürftigsten umgeleitet werden".

Es war ihre Antwort in einer Debatte, die damals schon einige Monate alt war. Sollte man den Energiekonzernen ihre Übergewinne nehmen, um Bürger und Unternehmen zu entlasten? Jene Profite, die sie ohne eigenes Zutun machten, nur weil Putin Europa das Gas abgedreht hatte und die Preise an den Strombörsen hochschossen? Ja, befand die Kommission, und von der Leyen kündigte eine "Obergrenze" für die Einnahmen von Unternehmen an, die günstig Strom erzeugen und teuer verkaufen. "Diese Unternehmen machen Gewinne, mit denen sie selbst in ihren kühnsten Träumen nie gerechnet hätten", sagte sie.

Ein entsprechender Gesetzesvorschlag, den die Kommission dann wenig später vorlegte, werde "140 Milliarden Euro für die Mitgliedstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern", kündigte von der Leyen an. Die Notfallverordnung war schließlich von Dezember 2022 bis Ende Juni dieses Jahres in Kraft: Alle Einnahmen oberhalb von 180 Euro pro Megawattstunde Strom sollten abgeschöpft werden.

Noch im Herbst will die EU-Kommission einen detaillierten Bericht vorlegen

Satte 140 Milliarden Euro, das klang schon damals sehr optimistisch. 14 Monate später zeichnet sich ab: Die Zahl war wohl aus der Fantasie geboren - zumindest hing sie wohl von Worst-Case-Annahmen ab, die schließlich nicht eintraten. Das geht aus der Antwort auf eine Anfrage des FDP-Europaabgeordneten Moritz Körner an die Kommission hervor, die der SZ vorliegt. Damals sei angenommen worden, "dass die Maßnahme in einer Zeit sehr hoher Strompreise angewandt würde, was jedoch letztlich nicht eintrat, da die Strompreise erheblich gesunken sind und während der Anwendung der Obergrenze für Markterlöse stabil blieben", schreibt die für Energie zuständige Kommissarin Kadri Simson.

In ihrer Antwort vermeidet sie es, genau aufzuschlüsseln, welches der 27 EU-Länder welche Zahlen nach Brüssel gemeldet hat. Stattdessen werde die Kommission "im Herbst 2023" einen detaillierten Bericht vorlegen, heißt es. Vorläufige Ergebnisse zeigen aber, wie wenig Geld durch die Maßnahme tatsächlich frei wurde: Bulgarien meldete Einnahmen von rund 163 Millionen Euro im Dezember 2022, und Litauen berichtete, dass man bis zum 9. März etwa zehn Millionen Euro eingenommen habe. "Ursula von der Leyen bleibt Ankündigungsweltmeisterin", sagt Körner. "Die vollmundig angekündigten Staatseingriffe haben die versprochene Wirkung verfehlt."

Deutsche Einnahmen bewegen sich bislang im dreistelligen Millionenbereich

Im Juni, also noch bevor die Sonderabgabe auslief, veröffentlichte die Kommission einen Zwischenbericht. Demnach rechneten die Mitgliedstaaten im Rat nur noch mit Einnahmen von mehr als 50 Milliarden Euro. "Schon zum Berichtszeitpunkt schien es jedoch unwahrscheinlich, dass sich diese Annahmen verwirklichen würden", heißt es in dem Papier. Nachdem die Großhandelspreise für Strom fast flächendeckend wieder gesunken waren, habe die "Erlösobergrenze" nur in Ländern gewirkt, die sie unterhalb von 180 Euro pro Megawattstunde angesetzt hatten.

Zu diesen Ländern gehörte auch Deutschland, wo EU-weit am meisten Strom verbraucht wird, die Preise extrem gestiegen und mithin hohe Einnahmen zu erwarten waren. Das Bundeswirtschaftsministerium hat bislang Zahlen für den ersten Abrechnungszeitraum von Anfang Dezember bis Ende März vorgelegt. Demnach beliefen sich "die insgesamt abzuschöpfenden gemeldeten Überschusserlöse" auf ungefähr 417 Millionen Euro, schreibt das Ministerium. Zur Finanzierung der Strompreisbremse, die nach BMWK-Schätzungen insgesamt etwa neun Milliarden Euro und damit weniger als prognostiziert gekostet haben wird, trägt das nicht viel bei. Noch im November sollen Zahlen für den Rest der Zeit bis Ende Juni vorliegen.

Mit Blick auf den bevorstehenden Winter ist die Angst vor erdrückenden Energiekosten und einem akuten Gasmangel nicht mehr groß. Die Speicher sind voll, die Strom-Großhandelspreise in Deutschland lagen im Oktober mit knapp 88 Euro pro Megawattstunde sogar unter dem Durchschnitt des Vorkriegsjahres 2021. Von Übergewinnen ist das weit entfernt.

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