Doku "The Great Amazon Heist":Wenn Amazon Urin als Energy-Drink verkauft

Lesezeit: 2 Min.

Amazon-Fahrerinnen und Fahrer müssen täglich so viele Pakete ausliefern, dass ihnen kaum Zeit für Pausen bleibt. (Foto: PATRICK T. FALLON/AFP)

Gestresste Amazon-Fahrer pinkeln in Flaschen und werfen sie aus dem Fenster. Ein Reporter sammelt den Urin und bietet ihn erfolgreich auf Amazon an. Was ist da los?

Von Simon Hurtz, Berlin

Release Energy hat alles, was es für einen Amazon-Bestseller braucht: Der Name ist einprägsam und passt zu einem Energy-Drink, Logo und Verpackung wirken professionell. Die Marketing-Kampagne wurde perfekt geplant, Fans bestellen im Minutentakt. Zwölf Stunden nach dem Marktstart spült der Hype das Getränk auf den ersten Platz der Amazon-Charts für die Kategorie Bitter Lemon - doch der Konzern ahnt nicht, was seine Algorithmen da empfehlen.

Die geschmackvoll gestalteten Flaschen sind mit einer eher unappetitlichen Flüssigkeit gefüllt: dem Urin von Amazon-Fahrerinnen und -Fahrern. Sie müssen täglich so viele Pakete ausliefern, dass ihnen kaum Zeit für Pausen bleibt. Manche pinkeln deshalb in Flaschen. Amazon gab das vor Jahren zu, doch statt Mitarbeiter zu entlasten, drohte man ihnen. An manchen Standorten können Fahrer gekündigt werden, wenn in den Lieferfahrzeugen mehrmals Flaschen mit Urin entdeckt werden.

Deshalb beseitigen manche die verräterischen Spuren, bevor sie Fahrzeuge am Ende der Schicht zurückgeben - indem sie die Flaschen kurz vor dem Lager aus dem Fenster werfen. Das fiel dem britischen Reporter Oobah Butler auf, der zuvor vergeblich versucht hatte, sich inkognito als Fahrer bei Amazon einzuschleusen. Er sammelte Dutzende Flaschen ein, füllte den Urin um und überlegte, wie er möglichst viele Menschen auf die Arbeitsbedingungen der Amazon-Fahrer aufmerksam machen könnte.

Urin stürmt die Amazon-Charts

Mithilfe von Freunden entwirft er die fiktive Marke Release, listet die vermeintlichen Energy-Drinks auf Amazon und deklariert die Zutaten ordnungsgemäß: Wasser, Harnstoff, Kreatinin, Harnsäure und andere Bestandteile des menschlichen Urins. Trotzdem stuft Amazon das Produkt als Getränk ein. Butler trommelt Freundinnen und Bekannte zusammen, die massenhaft bestellen und positive Bewertungen abgeben - natürlich ohne auch nur eine einzige Urinflasche erhalten oder gar getrunken zu haben.

Noch am selben Abend führt Release die Kategorie Bitter Lemon an, und die ersten Bestellungen gehen ein, die Butler nicht mehr seinem Freundeskreis zuordnen kann. In diesem Moment bricht er das Experiment ab, denn er hat erreicht, was er wollte. Und es zeigt, dass Amazon seinem selbstgesteckten Anspruch nicht immer gerecht wird: "Unser Ziel ist es, das weltweit kundenorientierteste Unternehmen und der beste Arbeitgeber mit dem sichersten Arbeitsumfeld zu sein."

Mit seinen bitterbösen Streichen hat Butler bereits mehrere Unternehmen schlecht aussehen lassen, Amazon trifft es nun aber besonders hart. In der Dokumentation " The Great Amazon Heist" des Senders Channel 4 führt Butler den Konzern mehrfach an der Nase herum und überlistet die Sicherheitskontrollen der Plattform. Ein Amazon-Sprecher sagte der SZ, die Doku zeichne ein stark verzerrtes Bild des Konzerns. Das Wohlergehen der Fahrer liege Amazon am Herzen, Sicherheit genieße höchste Priorität.

Eine Vierjährige kann Messer kaufen

Trotzdem konnten Butlers vier- und sechsjährigen Nichten Dutzende Messer, Gartensägen und Rattengift über den Sprachassistenten Alexa bestellen - ohne ein einziges Mal nach dem Alter gefragt zu werden. Die Pakete landen im Briefkasten, vor der Haustüre oder in Amazon-Schließfächern, wo man sie ohne Altersprüfung abholen kann. "Messerparty!", ruft eines der beiden Mädchen lachend, als sie zu dritt die Pakete auspacken. Angesichts der Tatsache, dass allein in Großbritannien jedes Jahr Hunderte Menschen mit Messern oder scharfen Gegenständen getötet werden, bleibt einem das Lachen im Hals stecken.

Amazon sagt, bei nur vier der bestellten Produkte sei eine Altersprüfung gesetzlich vorgeschrieben, das habe man angepasst. Kundinnen und Kunden könnten die Möglichkeit deaktivieren, über Alexa einzukaufen. Zudem gebe es die kindgerechte Option Alexa Kids, die weitere Sicherheitsmaßnahmen beinhalte.

Fast alles, was "The Great Amazon Heist" dem Konzern vorwirft, ist bekannt. Mitarbeiter stehen unter großem Druck, auf der Plattform werden immer wieder gefährliche und gefälschte Produkte angeboten, und wie fast alle großen Tech-Konzerne nutzt Amazon jedes Schlupfloch aus, um keine Steuern zu zahlen. Trotzdem gelingt der Doku etwas Außergewöhnliches: Sie macht die Folgen der abstrakten Plattformökonomie greifbar - und bringt selbst kapitalismusgewöhnte Konsumenten zumindest kurz zum Nachdenken, ob man wirklich alles im Netz bestellen muss.

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