DFB-Elf in der Nations League:Flicks Team macht Fortschritte - und tritt auf der Stelle

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Sieben Spieler getauscht, kein Torjäger dabei: Die Geste von Bundestrainer Hansi Flick ließ sich als erzieherische Geste an einige der etablierten Akteure verstehen. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Für die Engländer ist das 1:1 ein gutes Ergebnis. Und für die Deutschen? Der Bundestrainer hat mit dem Tausch von sieben Spielern die Kaderdynamik in Gang gebracht und den Konkurrenzkampf befeuert - doch ein paar altbekannte Probleme bleiben.

Aus dem Stadion von Philipp Selldorf, München

Den Schlusspfiff nahm Hansi Flick mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis. Es dauerte nicht viel länger als der Flügelschlag eines Kolibris, sagte aber wahrscheinlich mehr aus über das Befinden des Bundestrainers als die wohlwollenden Erörterungen, die er später ausführlich vor dem Fernsehpublikum und den Reportern ausbreitete. Mit dem Schlusspfiff des spanischen Schiedsrichters hatten sich Flicks Hoffnungen erübrigt, dass womöglich doch noch mehr herausspringen könnte als das 1:1, das auf der Anzeigetafel stand.

Wieder mal: 1:1 hieß es im März in Amsterdam nach der Begegnung mit den Niederlanden, 1:1 lautete am Samstagabend in Bologna das Resultat nach dem Treffen mit Italien, 1:1 ging jetzt in München das Spiel gegen England aus. Man muss kein Kriminalist sein, um zu schlussfolgern, dass diese Serie kein Zufall sein kann.

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:Ein völlig anderes 1:1

Die deutsche Elf präsentiert sich gegen England deutlich munterer als zuletzt gegen Italien. Am Ende reicht es zwar wieder nicht zu einem Sieg gegen einen sogenannten Großen - doch die Stärken der Mannschaft deuten sich an.

Von Christof Kneer

Während Flick einen kritischen Gesichtsausdruck nicht vermeiden konnte, zeigte sich sein Kollege Gareth Southgate hocherfreut. Englands Nationalcoach unternahm seine ausgiebige Handshake-Tour bei den Mitgliedern des deutschen Trainerstabs (selbst dem DFB-Pressechef machte er seine Aufwartung) nicht nur aus Gründen der sportlichen Fairness. Er war auch erleichtert darüber, dass der Gegner sein ermattetes Team doch noch mit einem Remis hatte davonkommen lassen. Für Southgate war das 1:1 ein gutes Ergebnis. Aber für die Deutschen?

Flick hat Bewegung reingebracht - der Kader hat dynamisch und lebhaft reagiert

Vor die Wahl gestellt, ob er sich lieber über sein Tor freuen oder mit dem Ausgang der Partie hadern wolle, fiel Jonas Hofmann die Entscheidung nicht schwer: Er ziehe das Hadern vor, sagte der Mönchengladbacher Angreifer, der die deutsche Mannschaft in der 51. Minute in Führung gebracht hatte. Im Rückblick wusste er zwar viel Gutes aufzuzählen, aber an einer zentralen Tatsache kam er trotzdem nicht vorbei: "Vielleicht war es ein kleines Manko, dass wir nur ein Tor geschossen haben" - die Worte "vielleicht" und "klein" hätte er sich sparen dürfen.

Sieben Spieler hatte der Bundestrainer im Vergleich zum vorigen Auftritt getauscht, aber einen Torjäger hat er nicht einwechseln können. Die Fahndung nach dem Mann, der zuverlässig Flanken in Treffer verwandelt und plötzlich auf magische Weise für den Abstauber zur Stelle ist, dauert zwar an, es wird aber weiterhin gegen Unbekannt ermittelt. International satisfaktionsfähige Mittelstürmer heißen in der Bundesliga Modeste oder Lewandowski, mit jedem 1:1 wird die Abwesenheit des klassischen Spezialisten zum dringlicheren Fall. Kai Havertz erwarb als Ersatzspitze am Dienstag seine Verdienste, aber eine reale Torchance besaß er nicht.

Sollte mit dafür sorgen, dass die Statik des Gebildes garantiert wird: Antonio Rüdiger darf das als eine weitere Aufwertung seines Status verstehen. (Foto: Sascha Walther/Eibner/Imago)

Flicks große Tauschaktion war einerseits ein rationales Manöver, das bei dem hohen Rhythmus dieser Länderspielreihe geboten erscheint, und andererseits eine Maßnahme, die sich als erzieherische Geste an einige der etablierten Akteure verstehen ließ.

In Italien hatte es nicht nur stimmungsabhängigen Spielern wie Serge Gnabry oder Leroy Sané an der nötigen Entschlossenheit gefehlt. Und so hat Flick am Dienstag zumindest aus pädagogischer Sicht einen Etappensieg gelandet. Die Inszenierung des Konkurrenzkampfs ist ihm gelungen. Er hat mit einem kräftigen Schütteln Bewegung in den Kader gebracht, und der Kader hat dynamisch und lebhaft reagiert. Das Publikum fühlte sich gut unterhalten, so viel Anteilnahme auf den Rängen würde sich der FC Bayern öfter wünschen. "Das Spiel heute war so, wie wir uns das vorgenommen haben. Die Art und Weise war für die Fans einfach toll", durfte Flick feststellen. Allein die Anwesenheit des spinnenbeinigen Jamal Musiala, der einer der sieben Neuen war, hob merklich das Niveau der Spielfreude.

Flick wird vermehrt Unzufriedenheit im Kader aushalten und moderieren müssen

Die Wahl der aus der Italien-Startelf übrig gebliebenen Vier - Manuel Neuer, Antonio Rüdiger, Joshua Kimmich und Thomas Müller - beruhte auf bautechnischen Erwägungen. Dieses Quartett sollte die Statik des Gebildes garantieren. Besonders Rüdiger darf das als eine weitere Aufwertung seines Status verstehen. Sein Kursgewinn an der Fußballbörse hat ihm einen Vertrag mit Real Madrid beschert, in der Nationalelf gehört er nun zur Kernbesetzung.

Nico Schlotterbeck wirkte an seiner Seite wie eine Art Juniorpartner. Während der Freiburger Verteidiger unternehmungslustig in die gegnerische Hälfte entschwand und dabei manchmal samt Ball verlorenging, hielt Rüdiger verantwortungsvoll Wache. Man weiß zwar noch nicht, wie die deutsche Abwehrreihe bei der WM in Katar aussehen wird, aber man weiß zumindest schon mal, dass Rüdiger in ihrem Zentrum stehen wird.

Schlotterbeck muss sich für den Posten des Nebenmanns mit seinem künftigen Dortmunder Teamkameraden Niklas Süle messen, trotz eines dezidierten Lobs des Bundestrainers ("eine richtige Verstärkung") war er aber nicht überzeugt davon, Pluspunkte gesammelt zu haben. Dass er kurz vor Schluss den Elfmeter verursachte, den Harry Kane zum Ausgleich nutzte, entsprang zwar eher einem Unfall als misslichem Verhalten. Doch Schlotterbeck verließ schuldbewusst den Tatort. Eine Stellungnahme? "Auf gar keinen Fall!", erwiderte er mit einem Lächeln, das mehr sagte als tausend Worte. Was sollte er denn auch erzählen?

Wenn er auf das Spektrum seiner Möglichkeiten blickt, dann dürfte Flick merken, dass fünf Monate vor dem Start der WM bei den Spielern sensible Grenzen spürbar werden. Vermehrt wird er Enttäuschungen im Kader moderieren müssen. Ilkay Gündogan etwa bekam zwar jetzt den Platz im Zentrum, auf den er keineswegs unberechtigte Ansprüche erhebt, doch selbst hochverdienter Sonderapplaus bei seiner Auswechslung hat ihn nicht getröstet. Gündogan war der Mann, der das deutsche Spiel strukturiert, getragen und ihm eine sehr ansehnliche Dosis Tiki-Taka verpasst hat, dennoch ging er ein wenig verdrossen nach Hause.

Es ging um den entgangenen Sieg, und es ging um ihn selbst, weil er wieder nicht hatte durchspielen dürfen, in der 83. Minute musste er seltsamerweise Platz machen für Leroy Sané. Beides hing seiner Meinung nach zusammen, aber das gab er nur als verschlüsselte Mitteilung zu Protokoll, weil er ja weiß, was sich gehört: "Wir müssen cooler sein, den Ball besser halten, auch mal ein bisschen Zeit schinden", sagte Gündogan also, als ob er sich in diesen letzten Minuten selbst vermisst hätte. Ein abgezockt eingefahrener Sieg gegen ein Klasseteam wie England "wäre vielleicht der Entwicklungsschritt gewesen", den die Mannschaft benötige, gab er dann noch zu bedenken, und damit hat er zweifellos recht: Flicks Nationalelf macht Fortschritte - und tritt zugleich auf der Stelle.

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