DFB-Torhüterin Merle Frohms:Chancen vereitelt, Chance genutzt

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Sicherer Rückhalt des deutschen Teams: Torhüterin Merle Frohms. (Foto: Memmler/Eibner/Imago)

Merle Frohms stand lange im Schatten von Almuth Schult. Nun ist sie die Nummer eins im Tor der deutschen Fußball-Nationalelf und beweist bei der EM, warum das so ist.

Von Anna Dreher, London

Die Szene in der 60. Minute gegen Spanien zum Beispiel. Nach einem langen Pass rennt Lucía García der deutschen Abwehr davon, Kathrin Hendrich und Giulia Gwinn versuchen, ihr hinterherzukommen - keine Chance. García rennt mit dem Ball weiter, der Jubel wird immer lauter, die spanischen Fans wittern ein Tor. Aber Merle Frohms hat längst einen Entschluss gefasst. Sie stürmt los, springt der Spanierin in einer Mischung aus flachem Kung-Fu-Tritt und Grätsche in den Lauf und erwischt mit dem Schienbein den Ball, Chance vereitelt, Ball zurückerobert, keine Karte. Das war mutig und sehr riskant, Frohms hätte abwarten können. Aber sie will nicht mehr zögern, sie entscheidet sich, und dann zieht sie das durch. Sie ist jetzt die Nummer 1.

"Es ist schön, dass ich ein Signal senden konnte: Falls wir mal nicht alles wegverteidigt bekommen, bin ich zur Stelle, ihr könnt euch auf mich verlassen", sagte Frohms nach dem 2:0, das den Einzug als Gruppensieger ins Viertelfinale gegen Österreich (Donnerstag, 21 Uhr, ARD) brachte. Für das gesamte deutsche Nationalteam geht es bei dieser Europameisterschaft darum, zu zeigen, dass mit ihm wieder auf hohem Niveau zu rechnen ist. Der Druck aber ist dabei gerade zu Beginn wohl für keine Spielerin so groß gewesen wie für Frohms. Dass die 27-Jährige eine herausragende Torhüterin ist, hatte sie längst bewiesen. Aber noch nie stand sie bei einem großen Turnier als erste Wahl zwischen den Pfosten. Erst recht nicht bei einem, an das nach dem Viertelfinal-Aus bei der EM 2017 sowie der WM 2019 so hohe Erwartungen geknüpft sind. Und vor dem die Besetzung des Tors trotz ihrer Leistungen diskutiert wurde - weil die Konstellation eine ungewöhnliche ist.

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Ein Erfolgsfaktor der deutschen Auswahl bei der EM ist der große Einfluss der Einwechselspielerinnen. Entweder ganz direkt, wie Nicole Anyomi gegen Finnland zeigt - aber noch viel mehr psychologisch und atmosphärisch.

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Deutschland hat traditionell starke Torhüterinnen, die meisten mussten lange warten, bis sie sich als solche zeigen konnten. Nadine Angerer debütierte 1996 - bis sie auf Silke Rottenberg als Stammtorhüterin folgte, vergingen mehr als zehn Jahre. 2015 trat Angerer zurück, Almuth Schult übernahm und war gesetzt. Sie galt mit ihrem Können, ihrer Persönlichkeit und ihrer Erfahrung als verlässlicher Rückhalt. An ihr war nicht einfach so vorbeizukommen. Doch nach der WM 2019 musste Schult an der Schulter operiert werden, im April 2020 brachte sie Zwillinge zur Welt. Auf einmal gab es viel mehr Platz zur Entfaltung. Frohms hat ihn genutzt.

Für Missstimmung bei der EM sorgt die veränderte Hierarchie im Tor nicht

Schon länger hatte sich abgezeichnet, dass sie einen großen Schritt in ihrer Entwicklung machen würde. Das Selbstbewusstsein, als Nummer 1 der DFB-Frauen genau dort zu stehen, wo sie hingehört, aber musste sie sich erarbeiten. Entscheidend waren dafür auch ihre Vereinswechsel. Mit 16 ging Frohms von Fortuna Celle als großes Talent zum VfL Wolfsburg. Von 2013 an gehörte sie mit 18 zum Profikader, in den aber gerade Almuth Schult gekommen war. Die fungierte zwar als Vorbild für Frohms und half ihr beim Lernen auf die Abiturprüfung, ließ ihr im Tor aber natürlich nicht den Vortritt. Bis 2018 gewann Frohms vier Meisterschaften, fünf Mal den Pokal und zwei Mal die Champions League, kam dabei aber lediglich auf zwölf Einsätze - und zog weiter zum SC Freiburg.

Mutige, aber riskante Rettungsaktion: Merle Frohms (Mitte) klärt im Gruppenspiel gegen Spanien vor dem Strafraum spektakulär gegen Lucía García. (Foto: Paul Terry/Sportimage/Imago)

Hier spielte sie sich in den Fokus. Im Oktober 2018 gab sie ihr Länderspieldebüt gegen Österreich, eingewechselt von Interimstrainer Horst Hrubesch zur zweiten Halbzeit. Im November gegen England zeigte sie sich in einem mit mehr als 77 000 Zuschauern gefüllten Wembley-Stadion nervenstark, als sie einen selbstverschuldeten Elfmeter parierte. 2020 verließ sie Freiburg für Eintracht Frankfurt. Hier feilte sie an ihrem Spiel. Mit Torwarttrainer Marcel Schulz arbeitete die 30-malige Nationalspielerin intensiv an technischen und taktischen Themen. Reaktionsschnell und gut mit dem Ball am Fuß ist die 1,75 Meter große Frohms ohnehin gewesen, hinzu kommen eine hohe Dynamik und Sprungkraft sowie ihre Geschwindigkeit.

All das verbesserte stetig ihre Chancen auf den Stammplatz im DFB-Tor und festigte ihr Standing, als sie die Chance ergriffen hatte. Bis kurz vor der Kaderbekanntgabe hatte sich Schult nach einer starken Rückrunde mit dem VfL Wolfsburg dennoch Hoffnungen gemacht, vor Frohms und die ebenfalls starke Ann-Katrin Berger (FC Chelsea) zu rücken. Die Welttorhüterin von 2014 ist die einzige im Kader, die seit 2011 bei allen Turnieren dabei war. "Ich sehe nicht, dass die Entscheidung schon in Stein gemeißelt ist", sagte Schult im Mai.

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Immer wieder kam das Thema auf und wurde öffentlich diskutiert, bis Martina Voss-Tecklenburg die Debatte beendete: "Merle ist unsere Nummer eins, an dem Status ändert sich nichts", sagte die Bundestrainerin. "Sie hat drei Jahre gespielt und sehr gute bis herausragende Leistungen gebracht. Almuth hat nicht gespielt." Für Missstimmung bei der EM sorgt die veränderte Hierarchie jedoch nicht. Assistenztrainer Patrik Grolimund erzählte in London, das Torhüter-Team "funktioniert extrem gut und pusht sich gegenseitig. Sie haben größten Respekt untereinander."

"Merle hat sich in den letzten zehn Jahren brutal entwickelt", sagt Kapitänin Alexandra Popp

Das gewonnene Profil auf dem Platz hat Frohms, die nebenbei BWL studiert, auch in ihrem Auftreten verändert. Ihre Vorgängerinnen sind allesamt starke Charaktere gewesen, bisweilen extravagant und eher laut. Bei Schult kommt eine hohe Medienpräsenz hinzu, die meinungsstarke 31-Jährige ist zu einer der bekanntesten deutschen Spielerinnen geworden und spätestens seit ihrem Job als TV-Expertin bei der Männer-EM 2021 einem großen Publikum bekannt. Frohms hingegen ist ruhig und zurückhaltend.

"Aber ich habe für mich persönlich gemerkt, dass ich besser damit fahre, wenn ich mit mehr Ausstrahlung auf dem Platz stehe, dass es mir und auch meinem Spiel guttut und sich das natürlich auf die Mannschaft auswirkt", sagte Frohms während der Vorbereitung. Der sicherlich enorme Druck, der auf ihr lastete, hat sie zumindest nach außen hin nicht verunsichert - bei der EM ist ihr noch kein Fehler unterlaufen. Frohms tritt mit einem Selbstverständnis auf, das sich mit jedem Länderspiel und wachsendem Rückhalt spürbar gefestigt hat.

Kennen sich schon viele Jahre: Merle Frohms hat mit Almuth Schult (hinten) jahrelang beim VfL Wolfsburg zusammengespielt - und dort mit ihr auch für die Abiturprüfung gelernt. (Foto: Christian Schroedter/Imago)

"Ich kenne Merle extrem lange, sie hat sich in den letzten zehn Jahren brutal entwickelt. Man hat früh gesehen, dass sie das Talent hat, genau da hinzukommen, wo sie jetzt steht. Sie hatte es halt schwer, weil sie Almuth vor sich hatte", sagte Kapitänin Alexandra Popp am Sonntag, die von der kommenden Saison an auch im Klub wieder mit Frohms spielt - diese löst die nach Los Angeles wechselnde Schult beim VfL Wolfsburg ab: "Ich bin kein Torwartspezialist, aber man hat gesehen, wenn es brenzlig wurde, war sie da und hat uns oft den Hintern gerettet, um im Spiel zu bleiben und uns einen Anschub zu geben. Sie hat es sich erarbeitet, auf den Punkt so zu performen." DFB-Torwartspezialist Michael Fuchs, der Frohms für ihr gutes Spielverständnis lobt, betonte ebenfalls, dass solche Auftritte nicht selbstverständlich seien: "Zumal es Merles erstes Turnier ist, es ein toller Einstieg war und wir gesehen haben, dass die Abstimmung zwischen Torhüterin und Mannschaft super funktioniert hat."

Als einziges Team neben Gastgeber England hat das deutsche die Vorrunde ohne Gegentor beendet, aber Frohms macht keinen großen Wirbel darum, sondern bleibt bescheiden. "Ich hatte es mir vorher nicht so schön ausgemalt, aber ist ein ganz gutes Gefühl", sagte sie nach dem letzten Gruppenspiel gegen Finnland. "Ich bin sehr zufrieden mit mir. Aber wenn die Abwehrspielerinnen sich gut stellen und anspielbar sind, ist es für mich natürlich auch leicht." Ständig im Fokus zu stehen und nach ihrer Meinung gefragt zu werden, daran muss sie sich noch gewöhnen. Aber das ist okay für Merle Frohms, das gehört dazu. Sie ist jetzt die Nummer 1.

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