Formel 1 in Spielberg:"Wir sahen wie Deppen aus, wie Amateure. Unglaublich!"

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Im erlaubten Bereich: Max Verstappen steuert in Spielberg durch die berüchtigte Kurve 10. Sein rechtes Vorderrad berührt die weiße Linie. Gerade noch so. (Foto: Erwin Scheriau/dpa)

Während und nach dem Großen Preis von Österreich in Spielberg ergießt sich eine Rekordflut von Strafen über die Fahrer. Die Piloten beteuern ihre Machtlosigkeit, selbst Weltmeister Verstappen klagt. Kann Kies die Lösung sein?

Von Philipp Schneider, Spielberg

Der Strafenmonitor des Automobilweltverbands Fia befindet sich in Spielberg gleich neben einem gigantischen Panoramafenster, durch das sich ein herrlicher Blick auf die Rennstrecke und das sattgrüne Alpenpanorama werfen lässt. Der Red Bull Ring sieht aus wie eine Carrerabahn für Riesen, die an einen Hang geklatscht wurde, nirgendwo sonst auf der Welt haben die Reporter der Formel 1 einen derart guten Blick auf nahezu die gesamte Strecke. In Monaco ist der Strafenmonitor ein kleiner Fernseher, in Spielberg ist er so groß wie die Leinwand eines Programmkinos, und wer sich schon immer fragte, warum er so riesig sein muss, der bekam an diesem Rennwochenende eine Erklärung präsentiert: Es lohnt sich!

Gefühlt im Minutentakt poppte von Freitag bis Sonntag im Rennbetrieb eine Meldung auf, wonach schon wieder die Rundenzeit eines Fahrers gestrichen wurde, weil er die Streckenbegrenzung überfahren hatte. Mal waren es die Kurven 1, 4, 6 und 9 - vor allem aber war es immer wieder: Kurve 10! Diese letzte Biege jeder Rennrunde folgt auf eine lange Bergabfahrt, es gibt dort kein Kiesbett, sondern nur eine asphaltierte Auslaufzone, auf die eine riesige Österreichflagge gepinselt wurde.

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Max Verstappen hatte schon am Freitag nach dem Qualifying gewarnt, in dem die Regelhüter 47 (!) Rennrunden wegen Verstoßes gegen Artikel 33.3 aberkannten, es sei nirgendwo so schwer, innerhalb der Pistengrenzen zu bleiben wie an dieser Stelle. "Am Ende einer Runde werden die Reifen zu heiß, dein Auto rutscht mehr, und dann reicht eine kleine Welle oder eine Kompression, um dich neben die Ideallinie zu drücken", klagte er: "Wir sahen wie Deppen aus, wie Amateure. Unglaublich!"

Einmal verwarnten die überforderten Kommissare Nico Hülkenberg. Dabei war der längst ausgeschieden

Da ahnte er noch nicht, dass sie an den zwei folgenden Tagen genauso aussehen würden. Wer sich den Spaß machte, der konnte aus dem Panoramafenster schauen und live mit ansehen, wie die 20 besten Fahrer der Welt einer nach dem anderen mit den Reifen zu weit hinaus getrieben wurden auf den rot-weiß-roten Belag, ehe kurz darauf das Programmkino die Strafe meldete: Zack! Runde gestrichen! War ja klar ...

Irgendwann waren die Kommissare während des Rennens so überlastet mit dem Protokollieren der Verstöße, dass ein Vergehen aufleuchtete, das für Staunen und Gelächter sorgte. Siehe da: Nico Hülkenberg wurde auch verwarnt? Dabei war er längst ausgeschieden! Er saß schon in seiner Box und gab fröhlich Interviews.

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Ein Sprecher der Fia erklärte Stunden nach Rennende, dass eine "beispiellose Situation" entstanden sei. Es war unmöglich, alle potenziellen Vergehen noch während des Wettkampfs zu überprüfen. Selbst ohne den Protest des Rennstalls von Aston Martin, der gegen die Rennwertung vorging, hätte man sich alle strittigen Szenen noch einmal angeschaut, versicherte die Fia. Sagenhafte 1200 Bewegtbildfolgen betrachteten die Regelhüter der eigenen Aussage nach, als sie Überstunden machen mussten, und der staunende Beobachter ertappte sich bei der Frage, ob wohl zumindest Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now" auf dieselbe epische Zahl kommt? Vermutlich nur im Director's Cut.

So jedenfalls kam es, dass die Kommissare am Sonntag eine derart unerhörte Flut an Strafen aussprechen mussten, dass die Zuschauer mindestens ebenso verwirrt waren wie die Rennrichter. Sechs Fahrer wurden schon während des Betriebs mit laufendem Motor mit Zeitstrafen gebremst - fünf Stunden (!) nach der Zieldurchfahrt gab es dann die Gewissheit: Acht (!!) Fahrer mussten im Regel-Wirrwarr nachträglich sanktioniert werden, für gemeinschaftlich weitere zwölf (!!!) Vergehen. Eine derartige Massenbestrafung gab es in 73 Jahren Formel 1 noch nie. Eine Farce, selbstverständlich.

Neben den bereits im Rennen geahndeten Verstößen von Lewis Hamilton, Carlos Sainz, Kevin Magnussen, Pierre Gasly, Yuki Tsunoda, Alex Albon und Logan Sargeant gesellten sich also dazu: fünf weitere Sekunden für Tsunoda. Zehn für Sainz, Gasly, Hamilton, Albon und Sargeant. Nyck De Vries bekam 15 Sekunden und Esteban Ocon sogar 30 Sekunden zusätzliche Strafe. Die drei Tagesschnellsten Verstappen, Charles Leclerc und Sergio Perez waren nicht betroffen; Rekordweltmeister Hamilton oder Sainz verloren wertvolle WM-Punkte.

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Wen nun die Arithmetik interessiert: Um fünf Sekunden aufgebrummt zu bekommen, muss einer vier Mal neben die Strecke fahren. Passiert dies auch zum fünften Mal, gibt es zusätzliche zehn Sekunden. Danach wird das Sündenregister wieder auf null gesetzt, der Fahrer hat seine Strafe schließlich abgesessen. Wird er dann allerdings rückfällig wie Ocon, so geht das Spiel von vorne los: Es gibt weitere fünf Sekunden für vier Übertretungen, dann wieder zehn Sekunden fürs fünfte Mal. Und so weiter...

Allein Ocon hat sich also mindestens zehn Mal nicht an die Vorgaben von Artikel 33.3 gehalten, die lauten: "Die Fahrer müssen alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um jederzeit die Strecke zu nutzen, und dürfen die Strecke nicht ohne triftigen Grund verlassen."

Toto Wolff fordert den Einsatz von Wurst-Randsteinen. Diese aber sind lebensgefährlich

Nun fragt man sich natürlich, was eigentlich schiefläuft in einem Sport, wenn dessen weltbeste Vertreter reihenweise gegen die Vorgaben verstoßen. Es gibt ja nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder: Sie sehen nicht nur aus wie Deppen, wie Verstappen anmerkte, sondern sind welche. Oder aber: Die Regeln sind Kokolores.

Mercedes-Teamchef Toto Wolff legte sich auf eine Erklärung fest, die interessanterweise beide Erklärungsansätze miteinander verschmolz: "So geht es gar nicht", klagte Wolff, er schlug stattdessen den Einsatz höherer Begrenzungen vor: die sogenannten "Sausage-Kerbs", also Wurst-Randsteine, die dazu führen, "dass du das Auto richtig beschädigst. Dann gibt es überhaupt keine Diskussionen mehr." Im Grunde brachte er so zum Ausdruck, dass die Fahrer nur deshalb über die Strecke schossen, weil sie glaubten, dies ohne Konsequenz tun zu können. Was ja nicht richtig war. Und er erhielt argumentative Unterstützung von einem seiner Angestellten. "Man schaut auf die weiße Linie, kann sie aber nicht spüren", sagte der Fahrer George Russell. "Man spürt Kies und Gras, aber nicht die weiße Linie. Man muss einfach diszipliniert sein."

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Das Problem an Sausage-Kerbs ist, dass sie auch für die Fahrer sehr gefährlich sind. Im Vorjahr wurde eine beim Formel-2-Rennen in Silverstone für den Norweger Dennis Hauger zur Sprungschanze: Sein Rennwagen hob ab und landete auf jenem von Roy Nissany, dem wohl nur der Kopfschutz Halo das Leben rettete. Auch in anderen Rennserien sind derartige Vorfälle dokumentiert.

Eine naheliegendere Lösung für die schwierigen Kurven in Spielberg wäre deshalb die Anlage eines Kiesbetts. Indem die runden Steinchen die Autos verlangsamen, hätten sie eine disziplinierende Wirkung, ohne Mensch und Material übertrieben in Gefahr zu bringen. Die Fia erklärte am Sonntag, dass sie den Betreibern des Red Bull Rings die Steinegruben schon nach dem Rennen im Vorjahr nahegelegt hätte. In Monza wurde eine ähnliche Kurve auf genau diese Weise entschärft. Anders als in Italien kreisen auf der Strecke in Spielberg allerdings auch Motorräder. Und für die Zweiräder, so heißt es, sei Kies vor allem in den Kurven 9 und 10 zu gefährlich.

"Die MotoGP ist immer das Argument, aber ich denke, man muss etwas haben, das flexibel und nützlich für die Formel 1 ist", klagte Christian Horner, der Teamchef von Red Bull. Er denke, "ein Schotterstreifen oder etwas anderes" sei das Mindeste. Immerhin habe die Formel 1 das ganze Wochenende über "dilettantisch" ausgesehen. Das wiederum war ausnahmsweise unstrittig.

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