Sieben Kurven in der Formel 1:Acht Fahrer, zwölf Strafen, fünf Stunden später

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Fuhr besonders oft neben der Strecke: Alpine-Pilot Esteban Ocon. (Foto: Lars Baron/Getty Images)

Ein Franzose fährt mindestens zehn Mal neben die Strecke, die Rennleitung muss 1200 Szenen nachträglich auf Video durchsehen und eine österreichische "Kristall-Erbin" gerät in den Fokus. Die Höhepunkte des Renn-Wochenendes.

Von Philipp Schneider, Spielberg

Kiesbett

(Foto: Clive Rose/Getty)

Ach ja, wenn's man wieder länger dauert ... Die stundenlange Warterei auf das offizielle Ergebnis ist inzwischen eine Art Alleinstellungsmerkmal der Formel 1 im Wettstreit mit allen anderen Sportarten. Ein Unique Selling Point, das klingt doch gleich viel toller! Am Sonntag in Spielberg gab es um 21.46 Uhr Gewissheit, dann erst stand die Reihenfolge des Klassements fest. Aber diesmal lässt sich zumindest nicht behaupten, die Rennleitung hätte die mehr als fünf Stunden seit der Zieldurchfahrt nicht sinnvoll genutzt. Sie hat in dieser Zeit angeblich sagenhafte 1200 (!) Szenen nachträglich auf Video durchgesehen, um zu überprüfen, ob sich nicht noch mehr Übeltäter auf vier Rädern neben die Strecke begeben hatten, als während des Rennens aufgefallen war. Artikel 33.3 besagt: "Die Fahrer müssen alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um jederzeit die Strecke zu nutzen, und dürfen die Strecke nicht ohne triftigen Grund verlassen."

Bei der Durchsicht, die wegen eines Protests des Teams Aston Martin veranlasst wurde, ergab sich dann, dass eine ganze Reihe von Piloten keinen triftigen Grund für ausufernde Ausflüge in den Kurven hatte: Die Rennleitung protokollierte am Ende 83 Übertretungen der weißen Linien. Sie sprach zwölf (!) zusätzliche Strafen aus, für acht (!!) Fahrer. Neben den bereits im Rennen geahndeten Verstößen von Lewis Hamilton, Carlos Sainz, Kevin Magnussen, Pierre Gasly, Yuki Tsunoda, Alex Albon und Logan Sargeant gesellten sich also dazu: fünf weitere Sekunden für Tsunoda. Sainz, Gasly, Hamilton, Albon, Sargeant noch mal zehn Sekunden. Nyck De Vries 15 Sekunden und Esteban Ocon sogar 30 Sekunden zusätzliche Strafe.

Angesichts der hohen Zahl an Straftätern im Fahrerfeld ist es wohl Zufall, dass die Podiumsbesetzung Max Verstappen, Charles Leclerc und Sergio Perez ungestraft davonkam - oder etwa nicht? Dahinter wirbelte es die Top 10 durch: Norris, Alonso, Russell und Stroll gewannen jeweils einen Platz. Sainz, Hamilton und Gasly rutschten noch mal eine Position zurück. Ach so, warum dieses Kapitel "Kiesbett" heißt - und nicht etwa den Namen des Fia-Rennleiters "Niels Wittich" als Überschrift führt? Ein Kiesbett wäre in der einen oder anderen Kurve die Lösung für das Problem der sogenannten Track Limits.

Esteban Ocon

Fuhr besonders oft neben der Strecke: Alpine-Pilot Esteban Ocon. (Foto: Lars Baron/Getty Images)

Der 26-jährige Franzose, der für Alpine startet, hat vor dem Rennen noch ganz aufgeregt davon erzählt, wie klasse es doch sei, dass sich der Hollywood-Schauspieler Ryan Reynolds gemeinsam mit anderen Investoren für 200 Millionen Dollar in das Rennteam eingekauft hat. Am Sonntag dann schaffte er ein Kunststück, das vom Comichelden-Darsteller Reynolds vielleicht eines Tages mal verfilmt werden könnte: Ocon erfuhr sich auf dem Red-Bull-Ring eine zusätzliche Zeitstrafe von 30 Sekunden.

Wie das geht? Nun: Um fünf Sekunden aufgebrummt zu bekommen, muss man vier Mal neben die Strecke fahren. Gelingt dies auch zum fünften Mal, gibt es zusätzliche zehn Sekunden. Danach wird das Sündenregister wieder auf null gesetzt, der Fahrer hat seine Strafe schließlich abgesessen.

Wird er dann allerdings rückfällig wie Ocon, so geht das Spiel von vorne los: Es gibt weitere fünf Sekunden für vier Übertretungen, dann wieder zehn Sekunden fürs fünfte Mal, und so weiter .... Wer nun mitgerechnet hat, ahnt: Ocon fuhr (mindestens) zehn Mal neben die Strecke. Den Vorwurf, er sei nicht lernfähig, kann man ihm allerdings schlecht machen. Er wurde ja nie verwarnt - es kam alles erst nachträglich raus.

Max Verstappen

(Foto: Clive Rose/Getty)

Hat sich in Spielberg die Note eins mit Sternchen verdient. Mit Sahne oben drauf. Er schnappte sich den beliebtesten Startplatz sowohl für den Sprint am Samstag, dann auch für den Grand Prix am Sonntag. Dann gewann er beide Rennen - und holte sich auch noch das Extrapünktchen für die schnellste Rennrunde. Obwohl der Stopp angesichts von nur 24 Sekunden Vorsprung auf Verfolger Leclerc nicht ungefährlich war.

Seine Anfrage, die Crew solle sich bereit machen zum Reifenwechsel, "ging schon fünf Runden vor Schluss los, wir sagten zuerst Nein, wir sind so souverän vorne, aber er war nicht davon abzubringen", erzählte Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko. "Und jetzt schläft er gut und alles passt." Riskieren hätte man es nicht unbedingt gemusst, meinte Marko, aber es half nichts: "Das war in seinem Kopf drinnen und er brauchte es. Und wir wollen ja, dass unsere Fahrer glücklich sind."

Familie Mateschitz

Red-Bull-Erbe Mark Mateschitz mit seiner Freundin Victoria Swarovski, Sängerin und Moderatorin, am Rande eines Formel-1-Rennens im österreichischen Spielberg. (Foto: Georg Hochmuth/dpa)

Als der Firmengründer von Red Bull im vergangenen Oktober starb, ist das auch Verstappen nahegegangen. "Man muss das akzeptieren, aber wir fahren auch, um ihn stolz zu machen und sein Erbe fortzusetzen", versprach der Niederländer in Spielberg: "Natürlich wollen wir hier den Sieg." Und natürlich holten sie auch den Sieg. Beim ersten Heimspiel für Red Bull ohne Mateschitz, anlässlich dessen bekanntgegeben wurde, dass bis mindestens 2030 Rennen auf der Strecke stattfinden werden, gab es keine spezielle Zeremonie. "Ich denke nicht, dass das in seinem Sinn gewesen wäre", sagte Motorsportberater Marko. Keine Mateschitz-Kurve, keine Statue oder Ähnliches wird es absehbar geben.

Dafür aber richteten sich die Kameras und Blicke auf seinen Sohn Mark Mateschitz, 31, und die sogenannte Kristall-Erbin Victoria Swarovski, 29. Die sind zwar seit Ostern bereits ein Paar, in dieser Woche aber ließen sie sich erstmals beim Turteln ablichten. Im Wiener Palais Ferstel wurde die Mutter von Mateschitz, Anita Gerhardter, 57, für ihre wohltätige Arbeit ausgezeichnet. Das Paar saß an ihrem Tisch. Swarovski scheint also schon Teil der Mateschitz-Familie zu sein, was praktisch ist: Irgendwann können die zwei Familien so ihre Geldspeicher zusammenschließen. Das Vermögen der Swarovskis wird auf vier Milliarden Euro geschätzt, das von Mateschitz auf 26 Milliarden Euro. Das ergibt dann endlich eine schöne runde Summe.

Lewis Hamilton

(Foto: Peter Fox/Getty)

Lewis Hamilton hat der Legende nach auch schon mal das eine oder andere Rennen gewonnen. Die älteren Zuschauer erinnern sich vielleicht sogar noch an seinen letzten Triumph: Vor eineinhalb Jahren querte der siebenmalige Weltmeister die Ziellinie in Saudi-Arabien tatsächlich als Erster. Lange her. Und Grund genug für Hamilton, um ins Grübeln zu geraten, wie sich Phasen der Dominanz, wie sie nun Red Bull eine erlebt, in der Formel 1 künftig verhindern lassen. "Ich hatte großes Glück, eine dieser Phasen zu haben, und Max (Verstappen, d. Red.) hat jetzt eine. So wie es läuft, wird es immer wieder passieren, und ich glaube nicht, dass wir das im Sport brauchen."

Mannschaften mit überlegenen Autos, argumentierte er, könnten früher als ihre Konkurrenten mit der Arbeit an ihrem nächsten Design beginnen, da sie in der laufenden Saison weniger Ressourcen aufwenden müssten. Hamilton forderte daher in Spielberg, dass es künftig klar definierte Zeiträume geben sollte, in denen Teams ihre Autos für die kommende Saison entwickeln dürfen. "Man müsste ein Datum festlegen, vor dem es nicht erlaubt ist, am nächstjährigen Auto zu arbeiten. Sagen wir der 1. August. Daran müssen sich alle halten."

Dass diese Theorie schlüssig ist und auch durch die Historie der Rennserie gedeckt wird, dürfte unstrittig sein. Verstappen jedoch, der in dieser Saison bisher sieben der neun Rennen gewonnen hat, sein Team Red Bull sogar alle, er wies Hamiltons Reformvorschlag spitz von sich: "Das Leben ist unfair. Das gilt nicht nur in der Formel 1. Wir müssen einfach damit klarkommen", sagte er und fügte an: "Darüber haben wir nicht gesprochen, als Lewis seine Meisterschaften gewann, oder?"

Nico Hülkenberg

(Foto: Erwin Scheriau/AFP)

190 Rennen ist er nun gefahren, kein einziges Mal stand er auf dem Podest. Dafür aber hat er sich in den vergangenen zwei Rennen einen Ruf erworben, der entschädigt: Nico Hülkenberg ist der Meister des Samstags. Beim Rennen in Montreal gehörte er zu den Profiteuren des Qualifikations-Chaos, als das Ergebnis stark durch die Launen des Regenwetters bestimmt wurde. Ursprünglich Zweiter verlor Hülkenberg die Position wieder, weil er unter roten Flaggen zu schnell war. In Spielberg erkämpfte er sich im Shootout für den Sprint am Samstag Startplatz vier, zwängte sich in der ersten Runde zwischen die sich beharkenden Red-Bull-Piloten Max Verstappen und Sergio Perez, und hielt Letzteren dann in seinem unterlegenen Haas auch noch sagenhafte zwölf Runden hinter sich.

Kein Wunder, dass der 35-Jährige munter für die Zukunft plant. "Aktuell stehen die Sterne und die Zeichen so, dass die Ehe weitergehen wird", sagte er angesprochen auf eine mögliche Vertragsverlängerung bei Haas über die Saison 2024 hinaus. Auf die Frage, ob er sich womöglich sogar für ein Top-Team reif fühle, antwortete Hülkenberg: "Absolut. Auf dem Fahrermarkt wird Ende 2024 einiges passieren, da laufen einige Verträge aus. Ich werde mich so attraktiv wie möglich zeigen."

Regenrennen

(Foto: Clive Rose/Getty Images)

Der tödliche Unfall des 18-jährigen Dilano van't Hoff bei einem Formel-4-Regional-Rennen in Spa-Francorchamps am Samstag hat auch die Fahrer der Formel 1 in Spielberg geschockt. Mehr als das: Einige Piloten nahmen das Unglück zum Anlass, um eine Sicherheitsdebatte zu eröffnen, die sich um die Frage drehte, ob Regenrennen im Motorsport ein zu großes Wagnis sind. Der Tod des jungen Niederländers glich auf frappierende Weise dem Formel-2-Unfall von Anthoine Hubert 2019 an gleicher Stelle. Mit dem Unterschied, dass sich der Crash vor vier Jahren bei bester Sicht ereignete, während diesmal Dauerregen von den Reifen aufgewirbelt wurde zu einer kaum zu durchschauenden Mauer aus Wasser.

Van't Hoff prallte in die Leitplanken und von dort zurück auf die Strecke. Das Auto stand auf der Kemmel-Gerade quer auf der Strecke und wurde von einem Konkurrenten mit Vollgas auf Höhe des Cockpits gerammt. Der andere Fahrer hatte keine Chance zu reagieren. "Bei so viel Gischt siehst du das andere Auto erst, wenn es vor dir steht", sagte Fernando Alonso. Der Spanier glaubt, dass Regenrennen bald grundsätzlich hinterfragt werden könnten. "Auf bestimmten Strecken, speziell den schnellen, ist die Gischt so gewaltig und die Sicht so schlecht, dass du das Schicksal herausforderst. Wir können es uns nicht leisten, dass sich ein derartiger Unfall wiederholt."

Nico Hülkenberg glaubt, dass die Groundeffect-Autos, die seit dem Vorjahr kreisen, in der Formel 1 das Sichtproblem noch verstärken, "weil sie aufgrund ihrer Bauart mehr Wasser hochwirbeln." In der Woche nach dem nächsten Rennen in Silverstone testet der Automobilweltverband Fia in Silverstone einen Kotflügel über den Hinterreifen, der verhindern soll, dass die Autos zu viel Wasser versprühen.

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