Krieg in der Ukraine:Besuch in Kiew

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen steht am Freitag vor Leichen, die aus einem Massengrab in Butscha exhumiert wurden. (Foto: Valentyn Ogirenko/Reuters)

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trifft den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zum persönlichen Gespräch - und besucht Butscha.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Die ersten Bilder tauchen am Freitagmorgen auf. Auf Instagram veröffentlicht Ursula von der Leyen ein kurzes Video, wie sie mit dem slowakischen Premierminister Eduard Heger einen Bahnsteig entlanggeht und in einen Zug steigt. Der kurze Text dazu: "Ich freue mich auf Kiew." Die Aufnahmen stammen vom Donnerstagabend. Auch wenn die ukrainische Hauptstadt nicht mehr von der russischen Armee beschossen wird, so ist die Sicherheitslage weiter angespannt. Über Nacht fuhr die Präsidentin der EU-Kommission mit Heger und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell von Przemyśl in Südostpolen nach Kiew, um ein "deutliches Zeichen der Unterstützung für die Ukrainer" zu setzen, wie sie den wenigen mitreisenden Agenturjournalisten sagte.

Die erste Station ist der Kiewer Vorort Butscha, in dem nach dem Abzug der russischen Soldaten Hunderte getötete Zivilsten gefunden worden waren. Begleitet von Premierminister Denys Schmyhal legen Borrell, Heger und von der Leyen Kerzen für die Opfer nieder und sehen sich 20 exhumierte Leichen aus einem Massengrab an. Wer für dieses Leid Verantwortung trägt, steht für von der Leyen fest: "Wir haben das grausame Gesicht von Putins Armee gesehen, wir haben die Rücksichtslosigkeit und die Kaltherzigkeit gesehen, mit der sie die Stadt besetzt hat." In diesem Ort sei "unsere Menschlichkeit zertrümmert" worden und die ganze Welt trauere mit den Menschen in Butscha. Die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. In einem Tweet richtet sie sich an die Ukrainer: "Euer Kampf ist unser Kampf."

Später trifft von der Leyen auch Präsident Wolodimir Selenskij und Schmyhal, um zu beraten, wie die Union der Ukraine eineinhalb Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges helfen kann. Der Empfang ist herzlich, von der Leyen sagt zu Selenskij: "Ich bin heute mit dir hier in Kiew, um ein deutliches Zeichen zu senden, dass die Europäische Union an eurer Seite steht."

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Als "verabscheuungswürdig" bezeichnet sie den Raketenangriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk, bei dem mindestens 50 Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden. Laut ukrainischem Geheimdienst SBU sind vier Kinder unter den Opfern. Während Kremlsprecher Dmitrij Peskow behauptet, dass Russland den eingesetzten Raketentyp nicht verwenden würde, wirft Selenskij Moskau vor, die Zivilbevölkerung zerstören zu wollen. "Dies ist ein Übel, das keine Grenzen kennt. Und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören", schrieb er auf Instagram.

Pünktlich zur Ankunft der EU-Spitzenpolitiker stimmten die Mitgliedstaaten dem fünften Sanktionspaket gegen Russland zu, das zwar trotz der Forderungen aus Kiew kein Komplettverbot für den Import von russischen Energieträgern enthält, aber zumindest von August an die Einfuhren von Kohle verbietet. Der EU-Chefdiplomat Borrell ist zuversichtlich, dass die Mitgliedstaaten seinem Vorschlag folgen werden, weitere 500 Millionen Euro zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte bereitzustellen. Damit würde sich die EU-Hilfe, organisiert über das Programm der "Europäischen Friedensfazilität", auf insgesamt 1,5 Milliarden Euro erhöhen.

Slowakei übergibt Luftabwehrsystem an Kiew

Womöglich noch bedeutsamer für die ukrainische Armee könnte eine überraschende Zusage von Eduard Heger sein: Die Slowakei wird dem Nachbar ihr schweres Luftabwehrsystem S-300 schenken. Damit können gegnerische Flugzeuge oder Raketen mit präziser Lenktechnik zerstört werden. "Die ukrainische Nation verteidigt tapfer ihr souveränes Land und auch uns", schreibt Heger auf Twitter. Es sei "unsere Pflicht, hier zu helfen", und man dürfe nicht ignorieren, dass unschuldige Menschen wegen der russischen Aggression sterben würden. Genau solche Systeme sowjetischer Bauart hatte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Donnerstag von den Nato-Mitgliedern gefordert. Zum Schutz des slowakischen Luftraums hatten Deutschland und die Niederlande dort drei Batterien des Patriot- Luftabwehrsystems in Betrieb genommen. Am Freitag wird nun bekannt, dass die USA eine weitere Patriot-Einheit in die Slowakei verlegen werden. Dass US-Präsident Joe Biden dies persönlich mitteilt, zeigt die Bedeutung dieses Waffensystems.

Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof der ukrainischen Stadt Kramatorsk starben mindestens 50 Menschen. (Foto: Andriy Andriyenko/AP)

Mit von der Leyen und Borrell reist auch der Este Matti Maasikas nach Kiew, der bis zur russischen Invasion die EU als Botschafter in der ukrainischen Hauptstadt vertrat und nun seine Arbeit wieder aufnimmt. Dies dürfte die weitere Kooperation erleichtern, die auch durch den ukrainischen Wunsch nach einer EU-Mitgliedschaft wohl enger werden wird. Selenskij hatte den entsprechenden Antrag Anfang März gestellt, der nun von der EU-Kommission geprüft wird. Von der Leyen gibt in Kiew als Ziel aus, dass ihre Behörde ihr Urteil noch "in diesem Sommer" den Mitgliedstaaten vorlegt. In Kiew sagte sie nun, die erste Prüfung des Beitrittsgesuchs werde nicht wie üblich Jahre dauern, "sondern, ich denke, eine Sache von Wochen" sein.

In Brüssel sehen EU-Diplomaten diese Eile kritisch und argwöhnen, dass die Deutsche das Dossier möglichst schnell abgeben möchte, um den 27 Staats- und Regierungschefs "den schwarzen Peter" zuzuschieben. Denn seit dem informellen Gipfel von Versailles habe sich das Stimmungsbild nicht geändert: Allein um den Status des Beitrittskandidaten zu vergeben, müssen alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Und dazu sind viele Westeuropäer nicht bereit.

Das fünfte Sanktionspaket gegen Russland tritt in Kraft

Borrell sichert der Ukraine auch Hilfe bei der Sicherung von Beweisen für Kriegsverbrechen an Orten wie Butscha zu. Dafür werden 7,5 Millionen Euro bereitgestellt, zudem kann die EU jene Expertise einbringen, die etwa in Kosovo erworben wurde. Stolz berichtet der Spanier, dass mittlerweile mehr als 1000 Personen aus Russland mit Strafmaßnahmen belegt worden sind. Am Freitag traf es weitere 217 Russen und Russinnen, die nicht mehr in die EU einreisen dürfen und deren Vermögen eingefroren wird. Auf der Liste stehen nun auch Wladimir Putins zwei Töchter Maria Woronzowa und Ekaterina Tichonowa, daneben die Oligarchen Oleg Deripaska, Boris und Arkadi Rotenberg oder Sberbank-Chef Herman Gref. In den Sanktionsbegründungen heißt es, die Personen hätten von der Nähe zum Putin-Regime profitiert oder es mit ihren Aktivitäten unterstützt.

Diese Liste ist Teil des fünften Sanktionspakets gegen Russland, das mit der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU am Freitag in Kraft trat. Es sieht unter anderem ein Einfuhrverbot von Kohle vor, das allerdings erst von August an gilt. Die Kommission schlug ursprünglich Juli vor. Die Behörde arbeitet schon an einem nächsten Sanktionspaket, das dann Ölimporte beschränken soll.

Daneben friert die EU bei vier weiteren russischen Banken die Vermögen ein und untersagt Geschäfte mit ihnen. Speditionen aus Russland und Belarus dürfen in der EU ebenfalls nicht mehr tätig werden; Schiffe unter russischer Flagge dürfen nicht mehr in europäischen Häfen einlaufen. Allerdings lassen Reedereien Schiffe oft unter anderer Flagge fahren. Die Kommission ist sich des Problems bewusst. Aber es könne schwierig sein festzustellen, ob Russen das Schiff besitzen oder betreiben, daher nutze die EU zunächst die Flagge als Kriterium, sagt ein Kommissionsbeamter - und deutet an, dass in Zukunft weitreichendere Kriterien gelten könnten.

Brüssel verlängert auch die Liste von Spitzentechnik und wichtigen Zulieferteilen, die aus der EU nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen. Zudem wird ein Importverbot gegen Spirituosen aus Russland, etwa Wodka, gegen Kaviar sowie Zement und Holz verhängt. Die Einfuhren, die nun mit einem Bann belegt sind, stehen - inklusive des Kohleembargos - für mehr als ein Zehntel des Werts russischer Exporte in die EU.

Präsident Selenskij bedankt sich bei seinem Besuch aus Brüssel zwar dafür, fordert aber weitere und härtere Maßnahmen. "Denn anders will Russland niemanden und nichts verstehen." Sanktionen dürften nicht "oberflächlich" bleiben.

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