Gaza-Krieg:Jeder Zweite in Gaza leidet Hunger

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Nach einem israelischen Angriff auf Rafah im südlichen Gazastreifen entwickelt sich ein Feuerball. (Foto: SAID KHATIB/AFP)

Die Vereinten Nationen berichten von dramatischem Mangel an Lebensmitteln in dem Küstenstreifen. Der UN-Sicherheitsrat dringt auf eine Resolution, die mehr Hilfe ermöglichen könnte.

Von Fabian Fellmann

Täglich bis zu 164 Lastwagen voller Hilfsgüter haben diese Woche den Gazastreifen erreicht. Das sind deutlich mehr als in den Wochen zuvor, aber noch immer nicht genug, um die Bevölkerung in dem Kriegsgebiet mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen: Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung am Verhungern ist. Videos aus dem Gazastreifen zeigen chaotische Zustände beim Eintreffen der Fahrzeuge, die von Menschenpulks umringt und verfolgt wurden. Philippe Lazzarini, Direktor des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA, berichtete von verzweifelten Menschen, die Fahrzeuge stoppen, plündern und die Lebensmittel auf der Stelle aufessen würden.

Die Zahl der Hilfslieferungen liegt noch immer unter den 200 Lastwagen pro Tag, mit denen sich die israelische Regierung einverstanden erklärt hatte. Die Transporte in den Gazastreifen werden aus Sicherheitsgründen von Israel kontrolliert, nicht nur jene, die direkt aus Israel über den Grenzübergang Karem Abu Salem in den Süden des Gazastreifens gelangen. Israel überprüft auch jene Lastwagen, die den ägyptischen Grenzposten Rafah passieren. Erstmals hat am Mittwoch das Hungerhilfswerk der Vereinten Nationen 46 Lastwagen aus Jordanien in den Gazastreifen transportiert.

Die Kontrollen verursachen Verzögerungen, die Diplomaten aus mehreren Dutzend Ländern zu beseitigen versuchen. Allerdings gestalteten sich die Verhandlungen darüber sehr zäh, wie sich auf höchster diplomatischer Ebene im UN-Sicherheitsrat zeigte. Eine Verbesserung der Mechanismen für die Hilfslieferungen ist Teil einer Resolution der Vereinigten Arabischen Emirate, die auch zu einer Kampfpause auffordert. Die Amerikaner haben eine Abstimmung über die Resolution in den vergangenen Tagen immer wieder verzögert. Jetzt stellten sie in Aussicht, die Annahme des Vorstoßes nicht wie in der Vergangenheit mit einem Veto zu verhindern, sondern sich der Stimme zu enthalten, womit die Resolution in Kraft treten könnte.

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Verhandelt wurde zunächst darüber, ob der Text den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober dieses Jahres verurteilen würde. Danach war ein Streitpunkt, ob die Resolution zu einer Beendigung der Kampfhandlungen oder lediglich zu deren Aussetzung aufrufen soll. Als die amerikanische Delegation in New York Anfang der Woche bereit zu sein schien, die Resolution durchgehen zu lassen, machte jedoch das Weiße Haus Vorbehalte geltend. Der Mechanismus zur Kontrolle der Hilfslieferungen entpuppte sich dabei als eine Knacknuss: Der Sicherheitsrat schlug vor, diese Aufgabe den UN zu übertragen; dagegen sprachen sich jedoch die USA aus. Außenminister Antony Blinken machte geltend, keine Änderungen einführen zu wollen, die möglicherweise neue Verzögerungen auslösen könnten. Bei den UN hingegen kam die Botschaft an, dass Israel die Kontrolle der Lastwagen nicht abtreten wolle. Auf Verbesserungen drang der britische Außenminister David Cameron. Er schlug vor, britische Schiffe von Zypern direkt nach Gaza zu senden, wie er am Donnerstag nach einem Gespräch mit seinem ägyptischen Amtskollegen Samih Schukri sagte.

Das Hin und Her der Amerikaner hat auch bei westlichen Diplomaten Verärgerung ausgelöst; zuletzt hatte sich sogar der Verbündete Großbritannien mit dem Text der Resolution einverstanden erklärt. Zuerst war eine Abstimmung am Montag vorgesehen, dann auf Wunsch der Amerikaner am Dienstag, am Mittwoch und schließlich am Donnerstag. Am Donnerstag wurde die Abstimmung allerdings ein weiteres Mal verschoben. Noch am Mittwochabend sagte US-Präsident Joe Biden: "Wir verhandeln derzeit bei den UN über die Umrisse einer Resolution, der wir möglicherweise zustimmen könnten."

Biden musste sich deswegen vorwerfen lassen, er verzögere die dringend nötigen Hilfslieferungen weiter. Allerdings verteidigten ihn amerikanische Analysten wie Aaron David Miller vom Carnegie Endowment for International Peace. Ohne Bidens Druck würde Israels Premier Benjamin Netanjahu überhaupt keine Hilfe nach Gaza gelangen lassen. Eine Resolution des Sicherheitsrates fühle sich zwar gut an, "aber sie wird Netanjahu nicht zwingen, mehr zu tun; das kann nur Biden", kommentierte er auf der Plattform X.

Netanjahu erteilte derweil Forderungen nach einer Waffenruhe eine Absage, während Hamas-Vertreter nach Ägypten reisten, um neuerliche Gespräche über eine Kampfpause und eine Freilassung von Geiseln zu führen. Die israelische Armee führte am Mittwoch Journalisten in ein Tunnelnetzwerk unter Gaza-Stadt, das sie als "gewaltiges Tunnelsystem" beschrieb, wie die Agentur AP berichtete. 20 Meter tief unter der Erde hätten sich Hamas-Führungskräfte Wohnungen eingerichtet, ebenso Kommandoräume, Wasser- und Stromschächte sowie weitere Räume, erschlossen durch Treppen und Fahrstühle.

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