Der Abzug von Diplomaten liegt im Werkzeugkasten der internationalen Politik sehr nah beim Holzhammer. Dass am Freitag 41 kanadische Diplomatinnen, Diplomaten sowie ihre Familien Indien verlassen, ist also ein größerer Knall im seit Wochen eskalierenden Streit um die Ermordung eines Sikh-Separatistenführers in Kanada.
Hardeep Singh Nijjar war am 18. Juni vor einem Kulturzentrum in Surrey, British Columbia, von mehreren maskierten Männern erschossen worden. Laut der indischen Anti-Terror-Behörde NIA stand Nijjar in Verbindung mit einer Gruppe, die in Indiens nördlichem Bundesstaat Punjab ein unabhängiges Khalistan errichten will, ein Heimatland für die Minderheit der Sikhs. Nijjar galt in Indien als Terrorist. Die kanadischen Behörden gehen davon aus, dass er vom indischen Geheimdienst umgebracht wurde. Nijjar war seit 2015 kanadischer Staatsbürger.
Auf dem G-20-Gipfeltreffen im September hatte Kanadas Premierminister Justin Trudeau seinen indischen Amtskollegen Narendra Modi auf die Sache angesprochen, doch Modi ließ ihn angeblich abblitzen. Als sich Trudeaus Abreise aus Delhi wegen eines Defektes an seiner Regierungsmaschine verzögerte, hätte es noch die Möglichkeit gegeben, den Konflikt leise zu lösen. Stattdessen suchte Trudeau, wohl auch getrieben von einer drohenden Veröffentlichung in der kanadischen Presse, eine Woche später die Öffentlichkeit. Er informierte das Parlament in Ottawa am 18. September darüber, dass es "glaubwürdige Informationen" gebe, die indische Regierungsbeamte mit der Ermordung von Nijjar in Verbindung bringen.
Laut indischer Presse will Kanada ihr Land nur schlechtmachen
Seitdem ist die Luft vergiftet. Das indische Außenministerium wies die Vorwürfe als "absurd" zurück, es wurden Diplomaten in beiden Ländern einbestellt und einige auch ausgewiesen. US-Außenminister Antony Blinken schaltete sich ein und sagte, dass die USA die Vorfälle "sehr, sehr ernst" nähmen. Ohne Delhi direkt zu beschuldigen, sagte Blinken: "Ich denke, es ist wichtig für das internationale System, dass jedes Land, das solche Handlungen in Erwägung ziehen könnte, dies nicht tut."
Die indische Presse und Politiker schossen sich in seltener Einigkeit darauf ein, dass Trudeau Indien in der Welt schlechtmachen wolle, inklusive mokanter Aufzählungen, was der kanadische Premier schon alles an eitlen und albernen Auftritten in Indien absolviert habe. Auf den begründeten Verdacht ging kaum ein Medium ein. Stattdessen wurden Gerüchte lanciert, dass Trudeaus Flugzeug nur deswegen mit Verspätung abgehoben habe, weil man Kokain an Bord gefunden habe. "Das Problem ist Kanadistan" lautete die Überschrift eines Artikels in der Times of India, in dem behauptet wurde, dass "Kanada eines Tages zum Pakistan des Westens werden könnte, wenn es seine khalistanische Militanz nicht eindämmt".
Auf dem ultrarechten Sender Republic TV wurde eine Sendung mit dem Titel #TrudeauBacksTerror ausgestrahlt, während die Nachrichtenseite NDTV eine Kolumne veröffentlichte, in der Kanada als ein Land "mit steigender Drogenabhängigkeit und einer Reihe höchst bedenklicher medizinischer Maßnahmen, einschließlich medizinischer Sterbehilfe" beschrieben wurde. NDTV wurde im vergangenen Dezember vom Multimilliardär und Modi-Vertrauten Gautam Adani gekauft. Die indische Presse wird von der hindunationalistischen BJP-Regierung, die seit 2014 an der Macht ist, seit Jahren auf Linie gebracht. Daher womöglich diese gespenstische Einigkeit.
Indien habe gedroht, die Immunität der Diplomaten aufzuheben
Die kanadische Außenministerin Mélanie Joly erklärte am Donnerstagabend, Indien habe gedroht, kanadischen Diplomaten bis Freitag einseitig den offiziellen Status zu entziehen. "Angesichts der Auswirkungen des indischen Vorgehens auf die Sicherheit unserer Diplomaten haben wir ihnen die sichere Ausreise aus Indien ermöglicht", sagte Joly auf einer Pressekonferenz. Die Drohung Indiens, die diplomatische Immunität aufzuheben, sei "beispiellos" und verstoße gegen internationales Recht.
Der kanadische Einwanderungsminister Marc Miller erklärt dazu, der Weggang der Diplomaten bedeute, dass Kanada die Zahl der mit der Einwanderung befassten Botschaftsmitarbeiter verringern müsse. "Wir sind uns der Sorgen und Frustrationen bewusst, die diese Situation bei Familien, Bildungseinrichtungen, Gemeinden und Unternehmen in ganz Kanada hervorrufen kann."
Rund zwei Millionen Kanadier, etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, haben indische Wurzeln. Etwa 770 000 davon sind Sikhs. Inderinnen und Inder sind die bei Weitem größte Gruppe der Studierenden, die nach Kanada kommen. Auf sie entfallen etwa 40 Prozent der internationalen Studiengenehmigungen. Es gäbe also viele Gründe, im Gespräch zu bleiben.