Das Politische Buch:Stolz und Fehlurteil

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Wunden, die nicht weichen: Fußgänger passieren in Belgrad das von Nato-Bomben zerstörte Gebäude des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs. Aufnahme zum zehnten Jahrestag des Bombardements 2009. (Foto: Thomas Brey/dpa)

Der Südosteuropaexperte Florian Bieber analysiert messerscharf die Uneinigkeit und Irrtümer der EU in ihrer Balkanpolitik. Und er erklärt, wie Russland und China ihren Einfluss dort immer stärker ausbauen.

Rezension von Tobias Zick

Man muss sich zunächst an einem mittelgroßen Hindernis vorbeiarbeiten: Der Titel, dieses Klischeebild vom "Pulverfass", das dem Südosten Europas seit Jahrzehnten immer wieder aufgeklebt wird, ist eines, für das sich der Autor selbst mutmaßlich nicht ganz so leidenschaftlich ins Zeug geworfen haben dürfte wie die Marketingabteilung des Verlags. Aber wenn's hilft, dadurch ein größeres Publikum für dieses schwergängige, aber politisch wieder zunehmend explosive Thema zu gewinnen: Dann, tja, warum nicht. Das Interessante steht ohnehin eher im Untertitel: "Wie Diktaturen Einfluss in Europa nehmen". Man darf dabei die Betonung getrost auf das Wort "Europa" legen.

Denn darum geht es wesentlich in diesem Buch des renommierten Regionalwissenschaftlers Florian Bieber, Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien an der Uni Graz: darum, wie Europa, im Speziellen die EU, es durch eine schwankende, inkonsequente und oft zahnlose Politik im Südosten ihres eigenen Kontinents Diktaturen wie Russland und China erst ermöglicht hat, über die vergangenen Jahrzehnte ihren Einfluss dort stark auszuweiten.

Zur Einordnung des gerade wieder aufflammenden Konflikts zwischen Serbien und Kosovo etwa ist es erhellend, bei Bieber nachzulesen, wie 1991, als der Zerfall Jugoslawiens schon begonnen hatte, die damalige serbische Führung um Slobodan Milošević in Moskau um Unterstützung für einen Putschversuch warb - und scheiterte. "Jugoslawien gehörte nicht zur sowjetischen Einflusssphäre", bilanziert der Autor, und: "Die Idee einer russisch-serbischen Freundschaft oder Allianz fand lediglich an den politischen Rändern Sympathien, zumindest in Russland."

Europas Uneinigkeit im Jugoslawienkrieg

Zugleich waren die USA mit anderen Großkrisen wie dem irakischen Angriff auf Kuwait beschäftigt und setzten deshalb darauf, dass sich die Europäer federführend um die Krise auf dem Balkan kümmern würden - doch die zeigten sich "in Anbetracht der Kriege uneinig und gespalten". Nüchtern listet Bieber Fehleineinschätzungen und Fehler der westlichen Gemeinschaft auf - so etwa jenes Waffenembargo, das allen Staaten des auseinanderbrechenden Jugoslawien gleichermaßen galt und letztlich dazu führte, dass die Bosnier den aus Altbeständen hochgerüsteten serbischen Truppen weitgehend wehrlos gegenüberstanden.

Ein großer Bruch im weltpolitischen Gefüge, der bis heute nachwirkt, waren dann die Nato-Bombardements auf Serbien, ohne UN-Mandat. "Was die Nato als Schutz vor ethnischer Säuberung verstand", schreibt Bieber, "war für Russland und China ein Bruch des Völkerrechts und bedeutete ihre Ausgrenzung aus der neuen Weltordnung. Und: Beide Seiten hatten darin recht. Die Reaktion Russlands war die unreflektierte Unterstützung Serbiens."

Russisch-serbische Freundschaft hat keine Tradition

Selbst diese Unterstützung aber hatte ihre Grenzen. Obwohl das jugoslawische Parlament im April 1999 in einem offenkundigen Akt der Verzweiflung beschloss, der Union von Russland und Belarus beizutreten, stimmte Russland wenige Wochen später im Weltsicherheitsrat einer Resolution zu, die Kosovo unter UN-Verwaltung stellte - unter militärischer Kontrolle der Nato. Es folgen einige eher erratische Aktionen, wie etwa eine kurzzeitige Besetzung des Flughafens von Pristina durch russische Soldaten.

Florian Bieber: Pulverfass Balkan. Wie Diktaturen Einfluss in Europa nehmen. Verlag Ch. Links, Berlin 2023. 248 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro. (Foto: Ch. Links)

Erst 2019 zeichnet eine gemeinsame Propaganda-Offensive ein neues Bild des Verhältnisses zwischen Serbien und seiner vermeintlichen Schutzmacht Russland: Den Startschuss markierte ein schriller und überaus erfolgreicher Actionfilm, finanziert von den beiden Regierungen, in dem russische Soldaten eine junge Serbin aus den Klauen eines blutrünstigen albanischen Organhändlers retten. Das Fantasieprodukt mit viel Geballer wurde vom russischen Kulturministerium gepriesen als ein Werk, das "unsere Werte, die Wahrheit und eine andere Sicht auf internationale Beziehungen" fördere.

Autokraten wurden hofiert, nicht Demokraten

Und jetzt? Jener "erfundenen Tradition" einer serbisch-russischen Freundschaft haben die Europäer lange Zeit wenig entgegengesetzt. Vom großen Versprechen des Thessaloniki-Gipfels 2003, die Zukunft der Balkanstaaten liege in der Europäischen Union, hallt zwanzig Jahre später nur noch ein müdes Echo nach. Die EU, so Biebers bittere Bilanz, habe dort "nicht mehr den Ruf, für die eigene demokratische Zukunft der Länder zu stehen. Zu oft haben EU‑Politiker Autokraten auf dem Balkan hofiert, keine kritischen Worte gefunden, als diese angebracht gewesen wären, und eigene Interessen bei Migration und Terrorismus über die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gestellt".

Was das Buch obendrein auszeichnet, ist sein messerscharf-analytischer und zugleich gelassener Ton. Man darf es den Menschen des westlichen Balkans wünschen, dass europäische Politiker, wenn sie in nächster Zeit Entscheidungen in Bezug auf ihre Region treffen, zuvor das Buch von Florian Bieber gründlich gelesen haben - auch wenn sie dabei hin und wieder in einen Spiegel blicken, der nicht nur Schmeichelhaftes offenbart.

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