Judentum:Mit der Spitzhacke gegen die Erinnerung

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Immerhin eine virtuelle Rekonstruktion: Eine Projektion an der Fassade des Hochbunkers aus dem Weltkrieg erinnert am Standort der ehemaligen Frankfurter Hauptsynagoge an die Zerstörung aus Anlass des 85. Jahrestags der Pogromnacht. (Foto: Helmut Fricke/dpa)

Peter Seibert legt den beschämenden Umgang der BRD und der DDR mit jüdischen Sakralbauten nach dem Zweiten Weltkrieg offen. Die Motive reichten von Antisemitismus bis zur völligen Gleichgültigkeit.

Rezension von Werner Bührer

In Zeiten, in denen der Judenhass grassiert und die Zahl antisemitischer Straftaten dramatisch steigt, gewinnt dieses unbedingt lesenswerte Buch zusätzlich an Aktualität, auch wenn es überwiegend von den Jahren 1938 bis 1988 handelt. Peter Seibert, emeritierter Professor für Literatur- und Mediengeschichte, beschreibt darin zunächst, wie die Nationalsozialisten den Völkermord an den Juden mit dem Versuch verbanden, das jüdische Erbe vollständig zu tilgen, um sich dann darauf zu konzentrieren, wie die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in erschreckendem Maße dabei versagten, "respektvoll" und "sensibel" mit den baulichen Relikten der jüdischen Kultur umzugehen. Ob dies aus Gedankenlosigkeit, Geringschätzung oder doch in der Absicht geschah, Spuren zu verwischen, "weil jede ausgebrannte, aber stehen gebliebene" und " umgenutzte" Synagoge ein "Tatort" war, der "auf die Verbrechen verwies", lässt Seibert offen.

Mit der Zerstörung jüdischer Sakralbauten hatten die Nationalsozialisten bereits 1933 begonnen: Bis zum Novemberpogrom 1938 waren mindestens 67 Synagogen betroffen, in der Pogromnacht selbst zerstörten sie 1406 Synagogen vollständig. Wenn einzelne Bauten den Gewaltexzess einigermaßen unbeschädigt überstanden, hatte dies meist ortsspezifische Gründe, etwa dass die Flammen aufgrund enger Bebauung auf andere, "nicht-jüdisch" Gebäude hätten übergreifen können oder NSDAP-Funktionäre bereits ein Auge auf das Objekt geworfen hatten: "Fortbestand, Umnutzung, Abriss" hingen von "bisweilen konkurrierenden privaten oder kommunalen Staats- und Parteiinteressen ab, jenseits aller grundsätzlichen Erwägungen, die Juden als nie in Deutschland Beheimatete, als Fremde dem endgültigen Vergessen anheimzugeben". Nach den mörderischen Versuchen des radikalen "Auslöschens jüdischer Geschichte" hätte man eigentlich, schreibt Seibert, "einen gesellschaftlichen Konsens im Land der Täter erwarten können, dass noch die geringsten materiellen Zeugnisse dieser Geschichte hätten bewahrt werden müssen".

Wohnblock, Parkplatz, Kino - alles war recht

Doch das Gegenteil war der Fall, wie er anhand der Auswertung des zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Georg Dehio begründeten und teilweise unverändert neu aufgelegten "Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler" zeigt. Dieses Standardwerk setzte die Ausgrenzung nahezu ungebremst fort. Noch empörender war allerdings, wie viele Stadt- und Gemeindeverwaltungen mit den baulichen Überresten umgingen. Immerhin waren, zitiert Seibert eine einschlägige Untersuchung, an den "über 2200 Standorten", an denen im wiedervereinten Deutschland einst Synagogen und Betstuben existiert hatten, "nach 1945 noch mehr als 1200 Bauwerke vollständig oder in Teilen vorhanden". Nur einige Beispiele, wie "gleichsam mit der Spitzhacke" die Geschichte "umgeschrieben" wurde: Im nordrhein-westfälischen Jülich hatten in der Nacht des 9. November 1938 nicht nur NSDAP- und SA-Leute, sondern auch "ganz normale Bürger" die Synagoge gestürmt. 1944 erhielt das Gebäude einen Bombentreffer, 1958 musste die Ruine einem Wohnblock Platz machen. In Kirn in Rheinland-Pfalz wurden die Überreste schon 1950 beseitigt, weil auf dem Gelände ein Kino gebaut werden sollte; in Thalfang im Hunsrück fiel die Synagoge ungeachtet ihres guten baulichen Zustands 1956 dem Abriss zum Opfer. In Elsdorf bei Köln diente das ehemalige Gotteshaus unter anderem dazu, Wagen für den Karnevalsumzug zu bauen, ehe es in den 1990er-Jahren einem Supermarkt weichen musste. Wohin man auch schaut: "Es war überall eine Mischung von resistentem, nicht immer explizit vorgetragenem Antisemitismus, pragmatischem Eigennutz und einem unbedingten Modernisierungswillen", die in diesen Jahren viele "Relikte jüdischer Baukultur bedrohte und tilgte". Und selbst wenn keinerlei antisemitischen Motive mitspielten - die völlige Gleichgültigkeit, die manche Amtsträger, Bürger und Bürgerinnen gegenüber der Geschichte und dem kulturellen Wert der erhaltenen Gebäude an den Tag legten, findet Seibert zu Recht kaum "weniger erschreckend".

Zynische Begründungen inklusive

Ein bedrückendes Kapitel widmet er der "Störung der Totenruhe" durch Friedhofsschändungen. Der Zentralrat der Juden zählte 1952 noch 1700 jüdische Friedhöfe in der Bundesrepublik. Viele dieser Begräbnisstätten waren "eher permanenten als periodischen Angriffen" unterschiedlichster Art ausgesetzt - von eindeutig antisemitisch motivierten Schändungen über würdelose Streitereien über Pflege und Instandhaltung bis zu zynischen Begründungen für den oft desolaten Zustand, dass nämlich "die Angehörigen der Toten durch Abwesenheit keine Gelegenheit mehr hatten, sich um die Grabstätten zu kümmern".

Peter Seibert: Demontage der Erinnerung. Der Umgang mit dem jüdischen Kulturerbe nach 1945. Metropol Verlag, Berlin 2023. 400 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21 Euro. (Foto: Metropol-Verlag)

Eine andere Form des unwürdigen Umgangs stellte die Zerstörung durch Umbau und Umnutzung dar. Im Regierungsbezirk Kassel beispielsweise bauten die neuen Besitzer ehemalige Synagogen zu Wohn- und Geschäftshäusern, Werkstätten, Lagerräumen, Scheunen, Garagen, Kirchen, Gaststätten und Banken um, im Regierungsbezirk Darmstadt kamen noch hinzu: Feuerwehrhaus, Kino, Theater, Weinstube, Tanzlokal, Bibliothek, Begegnungsstätte und Aquarium; ein Anbieter für Feriendomizile in der Eifel warb folgendermaßen um Gäste: "In unserer liebevoll restaurierten Landsynagoge gibt es drei Ferienwohnungen ..." Zu den Nutznießern dieser Art von "Synagogenrecycling" gehörten Bauern, Handwerker, Kirchenvertreter, Gastwirte, Fabrikbesitzer, Gemeindevorsteher und vereinzelt sogar Denkmalschützer. Mit welcher "Empathielosigkeit und Geschichtsvergessenheit" die neuen Nutzer zu Werke gingen - und zwar in der Bundesrepublik und der DDR -, erstaunt selbst im Abstand von 50 oder 60 Jahren.

Welcher Umgang wäre heutzutage richtig?

Aber wie könnte ein verantwortungsvoller Umgang mit den jüdischen Sakralbauten aussehen? Damit setzt sich Seibert in den letzten Kapiteln auseinander. In dieser Debatte stehen sich zwei Positionen gegenüber: zum einen das Konzept "schönender" Komplettsanierungen mit dem Ziel einer Wiedererlangung der "ursprünglichen Form", gewissermaßen eine "denkmalpflegerische Rekonstruktion eines imaginierten Idealzustands" - zum anderen das Restaurierungskonzept der "Differenz", bei dem gerade nicht "das ursprüngliche Erscheinungsbild" wiederhergestellt werden soll, sondern absichtliche Lücken, etwa der Verzicht auf die Rekonstruktion des Thoraschreins, auf die Verwüstung durch die Nationalsozialisten und die spätere "Umnutzung" verweisen sollen.

Der Ausgang dieser Debatte ist offen. Seibert favorisiert das zweite Konzept, plädiert aber dafür, dass "die jüdischen Gemeinden unabhängig von der nichtjüdischen deutschen Gesellschaft über ihre Erinnerungskultur entscheiden" sollten. Seine nachdrückliche Kritik an der Geringschätzung des jüdischen Kulturerbes in Deutschland ist auch eine Mahnung, vor dem hierzulande nach wie vor grassierenden Antisemitismus nicht die Augen zu verschließen.

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