Europawahlprogramm der Grünen:Umstrittener Kursschwenk

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Mit Terry Reintke an der Spitze gehen die Grünen in den Europawahlkampf, die 36-Jährige gilt als Vertreterin des linken Flügels. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Weg vom Image des Widerstands, hin zu Lösungen: Wie sich die Grünen für die Europawahl positionieren wollen, dürfte zur Blaupause für ostdeutsche Landtagswahlen werden.

Von Markus Balser und Karoline Meta Beisel

Die vergangenen vier Jahre waren für die Grünen in Europa gute Jahre. 2019 bei der Europawahl erzielten sie mit mehr als 20 Prozent ein Rekordergebnis, zogen mit 21 Abgeordneten ins Europaparlament ein. Deren Bilanz seitdem kann sich sehen lassen. Das ist freilich vor allem auch das Verdienst der konservativen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), die sich viele der grünen Ziele zu eigen machte und den "Grünen Deal" für mehr Klimaschutz zum Kernstück ihrer Amtszeit erklärte.

Nun, vier Jahre später, hat sich der Wind gedreht. Die grüne Euphorie ist vorbei, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas. "Der Green Deal steht gerade massivst unter Beschuss", sagte Terry Reintke, Spitzenkandidatin für die Europawahl, am Wochenende auf dem Parteitag der Grünen in Karlsruhe. Außenministerin Annalena Baerbock formulierte es etwas salopper: Im kommenden Wahlkampf dürfte der Klimaschutz eher "kein Wahlkampfschlager" werden.

Wie die Grünen mit ihrem Europaprogramm auf diese geänderte Stimmung reagieren, dürfte zur Blaupause auch für die ostdeutschen Landtagswahlen im nächsten Herbst und den Bundestagswahlkampf ein Jahr später werden. Das große Ziel der Parteispitze: wegkommen vom Image des Widerstands und der Verbote, hin zu einem der Lösungen.

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Im Zentrum des europäischen Programms soll eine "Infrastrukturunion" stehen. Gemeint ist ein Netz aus Wasserstoff- und Glasfaserleitungen, aus Stromtrassen und Schienen, aus Solarpanelen und Windparks, aber auch aus "modernen Krankenhäusern und verlässlichen Kitas". Man wolle Europa buchstäblich verbinden, sagt Co-Parteichefin Ricarda Lang. Die Grünen fordern deshalb auch in Zeiten knapper Kassen in Deutschland, massiv in den Umbau der Wirtschaft zu investieren.

Heftige Debatten innerhalb der Partei verursacht allerdings, dass die Grünen mit dem Programm auch ein jahrelanges Tabu brechen wollen. Die Partei will sich für die lange umstrittene unterirdische Speicherung von Kohlendioxid ("Carbon Capture and Storage", CCS) öffnen. Das Wahlprogramm verweist dabei auf jene Bereiche der Industrie, denen der Verzicht auf Kohlendioxid kaum möglich ist - etwa der Zementindustrie. Ihnen könnte die Speicherung auf dem Weg zur Klimaneutralität helfen. Die Parteiführung agiert damit ganz im Sinne von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Sein Ministerium arbeitet gerade an einer eigenen Strategie zum "Carbon-Management", die auch die Nutzung unterirdischer Speicher vorsehen soll - und sei es in Norwegen oder Dänemark.

Umweltschützer wittern einen Verrat der Grünen am Klimaschutz

Für die Partei ist das eine erstaunliche Wende. Noch bei der Europawahl 2019 lehnte sie CCS als "Risikotechnologie" ab, "wegen der unabsehbaren Gefahren", die für Gesundheit und Umwelt drohen könnten.

Im Umweltlager hält man weiter nichts von den Plänen und kritisiert die Grünen für den Kursschwenk hart. "Die CO₂-Endlagerung ist eine risikobehaftete Scheinlösung, die der Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht helfen wird", sagte etwa Greenpeace-Chef Martin Kaiser schon vor dem Treffen. Der Industrie diene die Debatte darüber lediglich als Vorwand, den Umbau hin zu klimafreundlichen Produkten und Prozessen zu verschleppen. "Die Grünen dürfen nun keinesfalls Verrat am Klimaschutz begehen und in die CCS-Falle der Öl- und Gasindustrie tappen", sagt Kaiser. Auch der Umweltverband BUND warnt vor einer "sehr bedenklichen Entwicklung". Gerade von den Grünen habe man so eine "180-Grad-Wende" nicht erwartet - ein Vorzeichen auch für die kommenden Wahlkämpfe in Deutschland?

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Mit einem vollkommenen Schwenk hin zu mehr Pragmatismus dürfte bei den deutschen Grünen in Europa jedenfalls nicht zu rechnen sein: Terry Reintke gilt als Vertreterin des linken Flügels. Die 36-Jährige aus Gelsenkirchen war ohne Gegenkandidat für die Spitzenkandidatur angetreten und erhielt mit 95 Prozent ein starkes Ergebnis. Insgesamt ist die Europaliste jünger und linker geworden. Andere bekannte Grüne werden bei der Wahl im Juni nicht mehr antreten, etwa die frühere Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament, Ska Keller, oder der Außenpolitiker Reinhard Bütikofer.

Mit den nun gewählten Kandidaten für die Abstimmung im Juni wolle man sich in Europa dem Rechtsschwenk entgegenstellen, sagte Außenministerin Baerbock. "Die, die Europa kaputt machen wollen", warteten nur darauf, dass sich Europa zerlege. Die Populisten warteten nur darauf, dass "die Ordnung scheitert, dass die Humanität scheitert".

Bei den Grünen heißt es, man beobachte mit Sorge, dass es in den Reihen der Konservativen Parteien gebe, die zur Zusammenarbeit mit Rechtsextremen bereit seien. Es dürfe "keine Zusammenarbeit mit Faschisten" geben, sagte Reintke in ihrer Bewerbungsrede. Populisten und Konservative seien es nun auch, die den Grünen Deal torpedieren wollten, hieß es auf dem Parteitag weiter. Es sei die Aufgabe der Grünen, das nicht zuzulassen: Die Frage, ob der Green Deal zum Erfolg werde, entscheide sich mit dem grünen Wahlergebnis zur nächsten Europawahl.

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