Europäische Politische Gemeinschaft:Selenskij fordert von Europa Einigkeit

Lesezeit: 3 min

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij (links) traf in Granada auch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. (Foto: LUDOVIC MARIN/AFP)

Krieg und Konflikte prägen das Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft. In Granada zeigt sich: Die EU tut sich schwer, eine Reaktion der Geschlossenheit zu zeigen.

Von Jan Diesteldorf, Granada

Um zehn nach elf am Donnerstagmorgen schreitet Wolodimir Selenskij über den blauen Teppich am Kongresszentrum in Granada, olivgrüne Hemdjacke und Cargohose, die Stimme rau, die Falten tief. Als er vor den Kameras in die Oktobersonne Andalusiens blinzelt, erinnert der ukrainische Präsident wieder jeden daran, wie Kriegsmüdigkeit nach 588 Tagen aussieht. Zu dem Zeitpunkt weiß er noch nichts von dem Raketenangriff Russlands auf ein Dorf in der Region Charkiw an diesem Tag, bei dem mehr als 50 Menschen ums Leben kommen werden. "Unsere größte Herausforderung ist es, die Einigkeit in Europa zu bewahren", sagt er. Damit ist der Ton gesetzt für dieses Treffen, das auf einmal nicht mehr nur unter dem Eindruck des russischen Angriffs stattfindet, sondern auch im Zeichen anderer, wieder aufflammender Konflikte an den Rändern der EU - ein Krisengipfel.

Nach Konferenzen in Prag und der moldauischen Hauptstadt Chișinău traf sich am Donnerstag in Granada zum dritten Mal die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG), ein Zusammenschluss von 47 Staaten inklusive aller EU-Länder. Eine Gemeinschaft, gegründet nach einer Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die ein Gesprächsforum sein soll für ganz Europa, inklusive Großbritanniens, der Schweiz und Norwegens, mit den Westbalkanstaaten und den Kaukasusrepubliken, mit der Ukraine, also: Mit all jenen, die irgendwann Teil der EU werden könnten. Dahinter stehe "die Idee, dass der europäische Kontinent seine eigene Zukunft gestalten kann - und gestalten muss", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Gespräche in Granada sollten die Lage entspannen, sie kamen aber nicht zustande

Eine kreative Energie oder viel Lust zur Gestaltung aber war vor Ort kaum zu spüren, und für eine Selbstvergewisserung Europas als Einheit und geostrategische Macht war kaum Platz. Die Besetzung der selbsternannten Republik Arzach, der hauptsächlich von Armeniern bevölkerten abtrünnigen aserbaidschanischen Region Bergkarabach, durch Baku überschattete das Spitzentreffen genauso wie die neuen Spannungen zwischen Serbien und Kosovo, ausgelöst durch einen Angriff serbischer Paramilitärs auf kosovarische Polizeikräfte und einen Aufmarsch serbischer Streitkräfte an der Grenze.

In beiden Fällen vermeiden es EU-Repräsentanten, die Aggressoren zu verschrecken. Den Vorfall in Kosovo stufte die EU als Terrorakt ein, das Vorgehen Aserbaidschans verurteilte sie. Sanktionen gegen beide Länder sind nicht in Aussicht. Während man Serbien nicht weiter in die Arme Russlands treiben will, braucht man Aserbaidschan als Erdgaslieferanten. Von der Leyen kündigte in Granada an, man werde die humanitäre Hilfe für Armenien auf 10,4 Millionen Euro verdoppeln.

Die Hoffnung, Gespräche vor Ort könnten jeweils die Lage entspannen, erfüllte sich nicht. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew sagte seine Teilnahme kurzfristig ab. Er werde wegen der "antiaserbaidschanischen Stimmung" einiger Gipfelteilnehmer nicht kommen, wurde er zitiert. Am Nachmittag trafen sich Bundeskanzler Olaf Scholz, Macron, EU-Ratspräsident Charles Michel und Armeniens Premier Nikol Paschinjan zu einem Vierer-Gespräch zusammen. In einer Erklärung betonten sie "ihre unerschütterliche Unterstützung für die Unabhängigkeit, Souveränität, territoriale Integrität und Unverletzlichkeit der Grenzen Armeniens".

Newsletter abonnieren
:SZ am Sonntag-Newsletter

Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.

Die kosovarische Präsidentin Vjosa Osmani machte Sanktionen gegen Serbien zur Bedingung, um überhaupt mit dessen Präsidenten Aleksandar Vučić zu reden. Kosovo hatte sich als frühere serbische Provinz nach einem Krieg 2008 für unabhängig erklärt, was Serbien nicht anerkennt. "Mit der Bedrohung des Kosovo haben sie den gesamten europäischen Kontinent in Gefahr gebracht", sagte Osmani. Die EPG sei etwas "für gleichgesinnte Länder, die an den Frieden glauben, die an die Stabilität glauben und die die europäischen Werte verteidigen", sagte Osmani. "Zu diesen gehört Serbien leider nicht."

Nicht zuletzt bot wackelnde Unterstützung der USA für die Ukraine Anlass zur Sorge: Die am Samstag vereinbarte Übergangsfinanzierung im US-Haushaltsstreit enthält keine Hilfe für die Ukraine. US-Präsident Joe Biden hatte den westlichen Partnern zuletzt aber die Fortsetzung seines Ukraine-Kurses zugesichert. Scholz sagte mit Blick darauf, er "sehr zuversichtlich".

Dass die EU es in einigen der wichtigsten Fragen nicht einmal schafft, mit einer Stimme zu sprechen, wurde erst am Mittwoch wieder deutlich, als die Kommission Ratspräsident Michel öffentlich und ungewöhnlich scharf kritisierte. Er hatte zuvor seine umstrittene Aussage wiederholt, die Ukraine könne schon 2030 zur EU gehören.

Am Donnerstag war es dann Selenskij, der die europäische Einigkeit am wirkmächtigsten beschwor. "Europa hat wahrlich bewiesen, dass es ein globales Zentrum für den Schutz der menschlichen Freiheit und des internationalen Rechts ist", sagte er in einer Rede. "Es hat sein eigenes Potenzial, stark zu sein." Ein Potenzial - das heißt: Noch ist es allein zu schwach.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusLiteraturnobelpreis
:Das bin ja ich

Mystiker, Dramatiker sogar in der Prosa, Lehrer Karl Ove Knausgårds: Der Norweger Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis. In seinen Romanen ist er in vielen Dimensionen unterwegs - und begegnet sich darin selbst.

Von Felix Stephan

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: