Dass sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Abendessen unerwartet schnell auf die Besetzung der beiden neuen Spitzenposten einigten, lag an zwei diplomatischen Gesprächen, die am Nachmittag stattgefunden hatten. Zunächst trafen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der britische Premier Gordon Brown und Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi, um die seit Tagen völlig unübersichtliche Liste an Kandidaten zu sondieren.
Dem Vernehmen nach verzichtete Berlusconi aufgrund vielfältiger Bedenken auf seinen Kandidaten für das Amt der EU-Außenministers, den Ex-Kommunisten Massimo D'Alema. Danach zog Brown den Vorschlag zurück, seinen Amtsvorgänger Tony Blair als ersten Präsidenten des Europäischen Rates zu nominieren. Stattdessen verständigten sich die vier Regierungschefs auf die Britin Catherine Ashton für das Amt der Hohen Vertreterin und auf den belgischen Premier Herman Van Rompuy als ersten Präsidenten des Europäischen Rates.
Kurz nach 17 Uhr bestätigten die sozialistischen Regierungschefs, darunter Großbritannien und Spanien, und der Fraktionschef der Sozialisten im EU-Parlament, Martin Schulz, Ashton als ihre Kandidatin. "Das war der Durchbruch", sagte ein hoher EU-Diplomat. Später, beim Cocktail vor dem eigentlichen gemeinsamen Abendessen im Ratsgebäude von Brüssel, schickte die amtierende schwedische EU-Ratspräsidentschaft den Belgier Van Rompuy offiziell ins Rennen.
Bei dem anschließenden Drei-Gänge-Menü einigten sich die Staats- und Regierungschefs endgültig auf die britisch-belgische Besetzung. "Wir hatten nicht einmal Zeit für einen Kaffee", sagte der spanische Ministerpräsident José Luis Rodrígez Zapatero. Eines ließen sich die 27 Regierungschefs allerdings nicht nehmen: Sie stießen mit Champagner auf die neue EU-Spitze an.
"Ich bin froh, dass nicht nur der Reformvertrag von Lissabon in Kraft ist, sondern auch die neuen Repräsentanten im Amt", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel sichtlich erleichtert. Europa sei "ein sehr vielschichtiges Gebilde". In den verschiedenen Gremien müsse aufeinander Rücksicht genommen werden.
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Merkel begründete die Wahl der außenpolitisch nahezu unerfahrenen britischen Labour-Politikerin Catherine Ashton, 53, zur ersten EU-Außenministerin mit ihren Verdiensten um die Durchsetzung des Lissabon-Vertrages im britischen Ober- und Unterhaus. "Ohne Catherine Ashton säßen wir heute vielleicht nicht hier", sagte sie. Der britische Premier Brown sagte, Ashton sei eine "kraftvolle Stimme für Europa".
Die aus einfachen Verhältnissen stammende Wirtschaftswissenschaftlerin begann ihre Karriere in der Lokalpolitik. Für ihre Verdienste wurde sie 1999 in den Adelsstand erhoben und auf Lebenszeit Mitglied des Oberhauses. In der britischen Regierung erwarb sie sich den Ruf einer geschickten Verhandlerin, weil es ihr gelang, die Zustimmung zum EU-Reformvertrag von Lissabon zu organisieren.
Erst im vergangenen Jahr wechselte die Baroness in ein außenpolitisches Amt: Sie wurde EU-Handelskommissarin. EU-Diplomaten bescheinigen ihr Einfühlungsvermögen und politisches Gespür. Tatsächlich gelang es ihr binnen weniger Monate, den Freihandel mit Südkorea und China auszubauen. Kommende Woche will Ashton sogar den am längsten währenden Streit in der Geschichte der Welthandelsorganisation beenden: Sie hat Europäer, Mittel-, Latein- und Nordamerikaner sowie Afrikaner praktisch überzeugt, ein Freihandelsabkommen für Bananenimporte abzuschließen.
Der konservative Belgier Van Rompuy, 62, war bis vor kurzem in Europa nahezu unbekannt und nicht als ernsthafter Anwärter für ein europäisches Amt im Gespräch. "Wir hatten viele gute Kandidaten", bestätigte Merkel. Am Ende hätten sich die Regierungschefs jedoch entscheiden müssen, ob sie einen anderen Kandidaten als Rompuy mit knapper Mehrheit wählen, der aber von anderen EU-Ländern hätte blockiert werden können - oder ob sie sich "für den größtmöglichen Konsens" entscheiden. Dieser heißt nun Van Rompuy.
Der Belgier habe "seine Qualitäten als Staatsmann, Diplomat und Verhandler ausreichend bewiesen", sagte Brown. Dass der gläubige Katholik und Betriebswirtschaftler besser als viele andere Politiker streitende Parteien einigen kann, dürfte ihm bei seinem neuen Job zugute kommen. Van Rompuy ist seit 1973 in der Politik. Zuletzt saß er dem belgischen Parlament vor, ehe er Regierungschef wurde. Bis zuletzt umstritten war jedoch, ob die Belgier ausgerechnet den Mann ziehen lassen würden, dem es in kürzester Zeit gelang, in dem politisch zerstrittenen Land eine stabile Regierung zu bilden.