Migration:Die Ampel - allein zu Haus

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Bis zu 40 Wochen: Bei sogenannten "Asylkrisen" plant die EU, Asylbewerber künftig so lange in Lagern festzuhalten - Aufnahme aus einem Camp auf Zypern aus dem Jahr 2021. (Foto: Petros Karadjias/AP)

Erstmals zeichnet sich eine gemeinsame europäische Migrationspolitik ab. Die deutsche Regierung stimmte dafür Verschärfungen des Asylrechts zunächst zu. Nun aber bremst sie doch noch.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Die Angst vor unkontrollierter Migration ist das Kernthema der Rechtspopulisten. In den USA, in Europa, überall. Deshalb werden die Institutionen der Europäischen Union vor der Europawahl 2024 alles tun, um zu zeigen: Die EU hat die Lage im Griff. Dazu dient das umstrittene Abkommen mit Tunesien, das dafür sorgen soll, dass weniger Migranten nach Europa gelangen. Dazu dient aber vor allem ein Paket von Migrationsgesetzen, das bis zum Februar 2024 beschlossen werden soll. Das Ziel: die Asylverfahren in Europa zu vereinheitlichen und zu beschleunigen.

Seit der Flüchtlingskrise 2015 wirbt die EU-Kommission für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik. Unter dem Eindruck steigender Flüchtlingszahlen zeichnen sich nun Mehrheiten für wesentliche Gesetzesvorschläge ab. Die Materie ist allerdings komplex, die finalen Verhandlungen zwischen dem Rat der 27 Mitgliedsländer, dem Europaparlament und der Kommission - sie werden im Gesetzgebungsverfahren der EU "Trilog" genannt - werden viele Monate dauern. Die Zeit bis zur Wahl wird knapp. Deshalb hat in Brüssel Unruhe verursacht, dass die deutsche Regierung das Prozedere vor der Sommerpause gebremst hat.

Alle Migrationsgesetze werden im Paket zu Ende verhandelt, darauf haben sich die drei EU-Institutionen vergangenes Jahr verständigt. Nun verhinderte die Bundesregierung jedoch, dass die Mitgliedstaaten sich auf eine Verhandlungsposition zur sogenannten Krisenverordnung einigen konnten, zum letzten noch fehlenden Teil des Pakets.

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Der Bundesregierung geht der EU-Gesetzentwurf zu weit

"Asylkrisen" werden, so sieht es der Gesetzentwurf vor, von der Kommission ausgerufen, wenn ein Mitgliedsland durch die Zahl ankommender Migranten über den normalen "Migrationsdruck" hinaus belastet ist. Dann sollen die Rechte von Asylbewerbern zusätzlich eingeschränkt werden, was der Bundesregierung in der vorliegenden Form zu weit geht. Viele Staaten wollen mit der Krisenverordnung erreichen, dass im Extremfall alle Migranten bis zu 40 Wochen lang in Lagern an der Grenze festgehalten werden können. Hintergrund für solche Pläne ist die "Instrumentalisierung" von Migranten, wie sie im Jahr 2021 der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko praktizierte. Er dirigierte Flüchtlinge an die Grenzen zu Polen und den baltischen Staaten mit dem Versprechen, sie seien in der Europäischen Union willkommen.

Der Gesetzentwurf sieht auch vor, dass die anderen Regierungen dem Krisenstaat mehr Hilfe leisten müssen, auch indem sie sich verpflichten, selbst mehr Migranten aufzunehmen. Deshalb lehnen Ungarn und Polen, die sich jeglicher europäischen Verantwortung in Sachen Migration verweigern, die Krisenverordnung ab, aber auch Österreich und die Slowakei. Es war jedoch die deutsche Enthaltung, die eine Mehrheit im Rat verhinderte.

Das Europaparlament, das längst in allen Punkten sprechfähig ist, hat bereits gedroht: Bis die 27 Regierungen sich zur Krisenverordnung einigen, könnten alle anderen Verhandlungen auf Eis gelegt werden. Eine Entscheidung wird Anfang September fallen.

Die Gespräche zu koppeln erscheint sinnvoll, denn die Gesetze bauen aufeinander auf. An den Außengrenzen sollen künftig alle Migranten zentral erfasst werden, außerdem sollen die bestehenden Sicherheitsüberprüfungen verschärft werden, zum Beispiel durch die Verwendung biometrischer Daten. Über die beiden entsprechenden Gesetze (Arbeitstitel: "Screening" und "Eurodac") haben die Mitgliedstaaten bereits vor Monaten Einverständnis erzielt. Überraschend haben sich die zuständigen Ministerinnen und Minister über zwei weitere Reformen im Grundsatz verständigt und damit den Weg für Verhandlungen mit Kommission und Parlament frei gemacht.

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Asylbewerber aus Staaten mit geringer Anerkennungsquote würden demnach in Lagern an den Außengrenzen festgehalten, bis nach zwölf Wochen über ihren Antrag entschieden ist. Bei einem negativen Bescheid würden sie sofort abgeschoben. Diese Lager würden von Ländern wie Italien und Griechenland betrieben. Um sie zu entlasten, sollen sich die anderen Regierungen im Gegenzug verpflichten, Asylbewerber zu übernehmen. Allerdings kann man sich von der Verpflichtung freikaufen.

Der Luxemburger Beschluss, mit qualifizierter Mehrheit (etwa zwei Drittel) gefasst, stößt in einigen Ländern nach wie vor auf Ablehnung. Polen und Ungarn laufen Sturm dagegen und haben mit Klagen gedroht. In Deutschland wurde die grüne Parteiführung von der Basis kritisiert, weil sie als Teil der Regierungskoalition der Entrechtung von Migranten zugestimmt habe. Auch deshalb hat die Ampel wohl die Krisenverordnung erst einmal gestoppt.

Die deutsche Regierung steht in allen Punkten der Migrationsdebatten mit ihren humanitären Bedenken weitgehend allein in der EU. Das Migrationspaket auf Dauer zu blockieren, kann sie sich schon aus innenpolitischen Gründen kaum leisten. Deshalb ruhen ihre Hoffnungen wohl vor allem darauf, dass das Parlament in den abschließenden Verhandlungen Änderungen durchsetzt.

Ratsvertreter signalisieren dem EU-Parlament: Wir haben kaum Spielraum

Viele Fragen sind strittig. Sollen im Schnellverfahren auch Familien mit Kindern in Lagern festgehalten werden? Welche Rechtsmittel können Asylbewerber in Schnellverfahren einlegen, haben sie wirklich Zugang zu Anwälten? Welche Kriterien gelten für "sichere Drittstaaten", in die Migranten abgeschoben werden können? Und nicht zuletzt: Wie intensiv soll überprüft werden, ob die nationalen Grenzbehörden bei der Ankunft der Migranten deren Rechte beachten? Angesichts der Meldungen über "Pushbacks" - illegales Zurückdrängen von Flüchtlingen - ist das ein wichtiger Punkt für das Parlament.

In ersten Gesprächen mit der Parlamentsdelegation haben die Ratsvertreter schon zu erkennen gegeben, dass sie kaum Spielraum für Kompromisse sehen. Zu wackelig seien die Mehrheiten unter den 27 Mitgliedsländern. Manche Abgeordnete haben den Eindruck, sie würden unter Druck gesetzt nach dem Motto: Das Parlament spiele den Rechtspopulisten in die Hände, sollte es die historische Chance platzen lassen, zu einer gemeinsamen Migrationspolitik zu finden. Das sei kein fairer Umgang, sagt jemand, der an den Gesprächen beteiligt ist. Schließlich würden die Rechtspopulisten das Thema Migration in jedem Fall instrumentalisieren - egal, was die Europäische Union bis zur Wahl noch beschließe.

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