Ärger um Corona-Impfstoffe:Quadratur des Kreises

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Mittlerweile Routine: Ratspräsident Charles Michel spricht zu den Staats- und Regierungschefs der EU beim per Videoschalte abgehaltenen Gipfel. (Foto: YVES HERMAN/AFP)

Der EU-Gipfel diskutiert über die Türkei und den Ärger mit Covid-Impfstoffen. Europa hat 77 Millionen Dosen exportiert, die Kommission verschärft die Regeln für Ausfuhren. Streit gibt es über die Verteilung der Vakzine.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Europas Probleme mit Corona-Impfstoffen sind grün-weiß schraffiert. Zumindest sieht das so auf den Folien aus, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag den EU-Staats- und Regierungschefs präsentiert. Zu Beginn des Videogipfels stand die Pandemie-Bekämpfung auf der Tagesordnung, und von der Leyen informierte die Runde über Vakzinlieferungen an die EU. Die Mittel des Pharmakonzerns Astra Zeneca waren in der Präsentation mit einem grünen Balken dargestellt, und grün-weiß schraffiert war all das, was die Firma versprochen hat, aber doch nicht liefert.

Von Dezember bis Ende Juni soll das britisch-schwedische Unternehmen 300 Millionen Dosen zur Verfügung stellen - schafft aber höchstens 100 Millionen. Diese enorme Lücke ist ein wichtiger Grund dafür, dass in vielen Mitgliedstaaten die Impfkampagnen nur schleppend angelaufen sind. Insgesamt lieferten drei Produzenten bislang 88 Millionen Dosen aus, bis Monatsende sollen es 106 Millionen sein. Hätte Astra Zeneca seine Verpflichtungen für das erste Quartal erfüllt, wären es fast doppelt so viele. Zugleich wurden aus der EU in den vergangenen vier Monaten 77 Millionen Impfdosen in 33 Staaten ausgeführt, wie von der Leyen vorrechnete. Allein 21 Millionen gingen nach Großbritannien, heißt es aus der Kommission.

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Mit diesen Daten wollte die Deutsche für den durchaus umstrittenen Schritt ihrer Behörde werben, die Regeln für den Export von Corona-Vakzinen zu verschärfen. Ohnehin müssen Hersteller solche Ausfuhren seit Anfang Februar genehmigen lassen, doch die Kommission beschloss am Mittwoch, weitere Gründe einzuführen, wieso Mitgliedstaaten diese Anträge ablehnen können. Die ausgeweitete Regelung tritt am Freitag in Kraft; die Zustimmung der Staaten ist nicht nötig.

Trotzdem diskutierten die Staats- und Regierungschefs darüber am Donnerstag. Gerade kleinere Mitgliedstaaten mit wichtiger Pharmaindustrie - Belgien, Schweden oder die Niederlande - sehen die Drohung mit Exportverboten als heikel an. Wie es heißt, drängten Regierungschefs aus diesem Kreis beim Gipfel darauf, mit größter Vorsicht und nach Rücksprache mit Herstellern und EU-Staaten vorzugehen. Auf der anderen Seite soll Italiens Ministerpräsident Mario Draghi die Verschärfung begrüßt haben. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte in der Pressekonferenz nach dem Gipfel die härtere Linie: "Wir sind als EU der Teil der Welt, der nicht nur sich selbst versorgt, sondern auch in die Welt hinein exportiert, anders als die USA, anders als Großbritannien", bemerkte sie kritisch. Von der Leyen sagte vor Journalisten, die Genehmigungspflicht solle sicherstellen, "dass Europa seinen fairen Anteil an den Vakzinen erhält". Die Regelung sei eine Einladung an andere Staaten, mit Europas Offenheit, was Exporte angeht, gleichzuziehen.

Astra Zeneca lässt endlich ein weiteres Werk zertifizieren

Immerhin gibt es beim Problemfall Astra Zeneca auch gute Neuigkeiten. Das Unternehmen lässt Impfstoffe in zwei EU-Werken produzieren, von Auftragsfertigern in den Niederlanden und in Belgien. Mit "Anlaufschwierigkeiten" in Belgien begründet der Konzern die Lieferausfälle. Doch im niederländischen Werk des Anbieters Halix wird eifrig produziert. Allerdings ist diese Fabrik bislang nicht von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) zugelassen. Daher können die Vakzine nicht in der EU eingesetzt werden - sehr wohl aber in Großbritannien. In der Kommission wird der böse Verdacht geäußert, Astra Zeneca habe sich mit der Zulassung extra viel Zeit gelassen, um zunächst Großbritannien versorgen zu können. Doch am Mittwoch stellte das Unternehmen schließlich den langersehnten Antrag. So könnten noch im März die ersten Dosen aus dieser Fabrik an EU-Staaten verteilt werden, heißt es.

Die Lieferausfälle provozieren auch Streit innerhalb der EU. Manche Mitglieder bestellten wenig von den teureren Vakzinen von Moderna und Biontech/Pfizer, dafür mehr von Astra Zeneca - ein Fehler, wie sich nun zeigt. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz fordert seit Tagen einen Ausgleich und sagte vor dem Gipfel: Gäbe es keine Lösung, könnte das "einen Schaden für die EU auslösen, wie wir es schon lange nicht erlebt haben". Doch eine Lösung blieb aus.

Merkel teilt gegen Kanzler Kurz aus

Dabei gibt es tatsächlich Verteilungsmasse, weil Biontech und Pfizer kurzfristig zehn Millionen Dosen mehr liefern können. Einige EU-Mitglieder schlugen vor, ein Drittel davon unter fünf besonders betroffenen Ländern aufzuteilen. Aber Wien reicht das nicht, denn es bekäme keine Extrarationen. Kurz drohte beim Gipfel daher mit einem Veto. Merkel betonte hingegen, dass die "Lieferverträge von den Mitgliedstaaten unterschrieben" worden seien - "und nicht von einigen dummen Bürokraten": eine Spitze gegen Kurz, der mit seinen Klagen über den "Impfbasar" und angebliche "Geheimverträge" viele verärgert hat. Am Ende einigten sich die Spitzenpolitiker darauf, weiter ihre EU-Botschafter über die Aufteilung der zehn Millionen Dosen feilschen zu lassen. Merkel sagte hinterher, eine Lösung zu finden, sei so etwas wie die "Quadratur des Kreises".

Das andere brisante Thema der Konferenz war das Verhältnis zur Türkei. Merkel sagte vor dem Gipfel im Bundestag, sie erwarte "keine einfachen Gespräche", hoffe aber auf ein Ergebnis. Schließlich weiß Merkel genau, dass es an ihr lag, dass im Dezember keine Sanktionen wegen der Erdgasbohrungen im Mittelmeer verhängt wurden. Seitdem umwirbt Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Europäer. Merkel beklagte aber, dass in der Türkei Menschenrechte "in vielen Fällen" nicht respektiert würden. Es sei bedauerlich, dass die Türkei ihren Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Gewalt gegen Frauen verkündete. Die virtuelle Diskussion verlief dann erstaunlich zügig: Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis und Zyperns Präsident Nikos Anastasiades machten schnell klar, dass sie den Kompromiss von Ratspräsident Charles Michel mittragen.

Beim Thema Migration und Flüchtlinge will die EU die Zusammenarbeit fortführen

Die Abschlusserklärung verurteilt die Angriffe Erdoğans auf Medien und Oppositionsparteien, aber es gibt konkrete Angebote für den Fall einer weiteren Deeskalation im östlichen Mittelmeer. Demnach könnte der EU-Ministerrat bald mit der Vorbereitung von Verhandlungen über eine ausgeweitete Zollunion mit der Türkei beginnen. Festgehalten wird aber, dass die EU ihr Engagement mit der Türkei "stufenweise, angemessen und umkehrbar" anlegen will. Fortführen möchte sie die Zusammenarbeit beim Grenzschutz und der Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Als Anreiz für die Türkei soll die Kommission beauftragt werden, weitere Finanzhilfen für die Versorgung syrischer Flüchtlinge vorzubereiten. Bereits im Juni wird man sich wieder mit der Türkei befassen. Merkel sagte nach dem Gipfel: "Trotz der tiefen Meinungsverschiedenheiten ist Sprachlosigkeit keine Antwort, wir brauchen Kontakte auf allen Ebenen."

Da der Gipfel virtuell stattfand, schrumpfte die Aussprache über das Verhältnis zu Russland zu einem "Informationspunkt". Welche Politik er gegenüber Wladimir Putin verfolgen wolle, erläuterte US-Präsident Joe Biden per Videoschalte, die 30 Minuten dauerte. Merkel nannte Zusammenarbeit bei Klima-Fragen oder die Beilegung von Handelsstreitigkeiten als Ziele - und dass sich Biden im Umgang mit der Türkei und auch mit China eng abstimmen will. Über den Umgang mit Peking sagte Merkel, es werde "viele Gemeinsamkeiten mit den USA geben, aber keine Identität". Beide hätten ihre Interessen, sagte die Kanzlerin, bevor sie sich um 22 Uhr mit "Noch einen schönen Abend, heute mussten Sie ja nicht so lange warten" von den Journalisten verabschiedete.

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